Der Alte hatte vermutlich vergessen, dass er allenfalls noch dreihundert Jahre zu leben hatte. Oder er wollte seine Besucher im nächsten Leben empfangen. Wer weiß schon, wie es bei Großen Magistern nach dem Tod aussieht.
»Wir möchten Ihre kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Nuflin«, sagte Juffin und erhob sich vom Sofa. »Ich erinnere mich genau, wie schnell Ihre Gesprächspartner Ihnen lästig werden. Erst recht, wenn es sich um so langweilige Besucher wie uns handelt, Sir.«
»Juffin, stell dich bitte nicht so an. Ich weiß doch, dass du nur wieder essen gehen und über mich lästern willst. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich dich davon abhalten oder dich sogar zum Essen einladen will? Nein, das tu ich nicht - so gut solltest du mich inzwischen kennen. Geh also in dein Fressfass. Und du, mein Junge, machst dir eine hübsche, erholsame Nacht. Die hast du dir verdient.«
Sündige Magister - was mochte er damit gemeint haben!?
Wir verließen die Burg Jafach durch einen Geheimgang, der direkt in den Keller des Hauses an der Brücke führte. Offenbar betrat man die Residenz des Ordens des Siebenzackigen Blattes auf öffentlich zugänglichem Wege, verließ die Burg aber auf geheimen Pfaden, die einem allerdings niemand zeigte, geschweige denn bahnte.
»Wer war eigentlich dieser Lojso Pondochwa, von dem Sie und der Große Magister Nuflin sprachen?«, fragte ich, kaum dass wir die Burg verlassen hatten.
»Lojso? Der war Großer Magister des Ordens der Wasserkrähe, des Ordens also, dessen Name dich so zum Lachen gebracht hat. Geh jetzt schlafen, mein Held«, meinte Juffin und zwinkerte mir zu. »Ein so schläfriges Nachtantlitz wie du ist ja zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich muss sowieso mit Kofa die Nacht durcharbeiten.«
»Für etwas so Wichtiges wie die Erweiterung der Kochmagie kann man wohl mal durchmachen«, sagte Kofa nickend. »Glückwunsch, Sir Juffin. Ich hätte nicht gedacht, dass es so leicht wäre, Veränderungen im Chrember-Gesetzbuch durchzudrücken. Sie haben den Alten wirklich um den Finger gewickelt.«
»Gut, dass ich es war. Stellen Sie sich vor, was mit der Welt passieren könnte, wenn ein anderer an meiner Stelle wäre.«
»Das wäre schrecklich! Sir Max, hören Sie auf Sir Juffin und gehen Sie endlich schlafen. Sie sind wirklich fix und fertig.«
Ich hatte keine Einwände, nahm mir aber vor, erst noch mein Schlafzimmerfenster abzudichten, da der Durchzug in letzter Zeit immer schlimmer geworden war. Über Zugempfindlichkeit hatte bisher noch keiner meiner Kollegen geklagt.
Trotz meiner Müdigkeit meldete ich mich von unterwegs per Stummer Rede bei Lady Melamori.
»Wie geht's, Unvergessliche?«
»Danke der Nachfrage. Während du in Jafach gewesen bist, war Melifaro bei mir zu Besuch. Und meine acht Freundinnen natürlich auch. Beide Seiten waren sehr voneinander angetan. Der arme Mann ist bestimmt noch ganz außer sich, weil er noch nie einen derart überdimensionierten Flirt erlebt hat. Er ist es gewöhnt, sich mit nur einer Frau zu treffen, und stand plötzlich vor einem gewaltigen Überangebot.«
»Waren deine Freundinnen von mir eigentlich auch angetan?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich hab gestern mit Likör und anderen alkoholischen Getränken arg übertrieben. Gute Nacht, Max, ich bin schon am Einschlafen.«
»Bis morgen also?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Natürlich. Ende.«
Auch Lady Melamori hatte mein »Ende« übernommen. Das gefiel mir sehr - als ob sie irgendeinen Nippes, den ich ihr geschenkt hatte, in der Tasche ihres Lochimantels tragen und mitunter ihren Bekannten zeigen würde.
Kaum war ich eingeschlummert, wurde mein ohnehin nicht langweiliges Leben noch interessanter. Ich träumte, in meinem Schlafzimmer habe sich ein unsichtbarer Gast eingenistet.
»Hallo, mein Hellseher!«, rief jemand. Sofort erkannte ich die Stimme von Sir Maba Kaloch. »Wie clever von dir, Junge, mich beim alten Nuflin gleich zu erkennen. Versuch in Zukunft aber vielleicht, nicht so vorlaut zu sein. Alle wissen doch längst, wie klug du bist, und ich bleibe lieber inkognito.«
»Verzeihung, Sir Maba.«
Obwohl ich schlief, begriff ich rasch, worum es ging.
»Nicht so schlimm. Nuflin, Juffin und Kofa sind ja noch nicht das Königreich. Und sie hätten mich auch ohne deinen Hinweis gespürt. Aber merk dir eins: Wenn du dich mit mir unterhalten willst, tu das in Zukunft per Stummer Rede und posaune nicht gleich aus, dass Maba Kaloch in der Nähe ist. Verstanden?«
»Sicher«, murmelte ich. Es war mir wirklich peinlich.
»Prima. Und weil ich schon mal da bin, hab ich dir ein kleines Geschenk mitgebracht.«
»Was für ein Geschenk?«
»Ein gutes. Pass auf, dass niemand dein Kissen verschiebt.«
»Warum das denn?«
»Weil das Kissen eines so großen Helden, wie du es bist, ein Stöpsel in der Ritze zwischen zwei Welten sein kann. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Nein«, antwortete ich ehrlich.
»Ach, Max! Wie sagt der arme Juffin immer: Ich stehe vor einem Rätsel. Na ja. Weißt du noch, dass ich bei eurem Besuch unterm Tisch nach Speis und Trank für euch gelangt habe?«
»Natürlich«, sagte ich strahlend. »Soll das heißen, dass ich das jetzt auch kann?«
»Tja, für so einen tollen Trick wirst du noch lange üben müssen, aber wenn du fleißig bist, kannst du dir bald aus fernen Welten diese kleinen komischen Dinger zum Rauchen organisieren, die dir so fehlen. Versuch es mal im Schlaf. Und nagele dein Kissen fest, das rate ich dir.«
»Und wie soll dieser Versuch aussehen?«
»Schieb einfach die Hand unter dein Kissen - dann klappt es wie am Schnürchen. Du musst aber Geduld haben, Junge. Anfangs dauert es recht lange. Aber das wirst du bald merken.«
»Sir Maba - wenn ich auch nur eine Zigarette bekomme, stehe ich ewig in Ihrer Schuld.«
»Das klingt gut. Deine komische Angewohnheit garantiert mir, dass du den Trick fleißig probierst. Das Einzige, was dir noch fehlt, ist Übung. Aber jetzt muss ich gehen.«
»Besuchen Sie mich demnächst mal wieder im Traum?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Darf ich noch was lernen?«
»Natürlich darfst du das, Max - auch ohne meine Hilfe. Ich kann dir nicht versprechen, dich oft zu besuchen. Du bist so jung, und ich bin sehr viel älter ... Es ist recht strapaziös für mich, dich zu unterrichten. Es wäre besser, Juffin würde dir einiges beibringen. Außerdem träumst du nun ohnehin ganz andere Dinge. Und in diesen Träumen ...«
»Was meinen Sie damit?«
Doch meine Frage war vergebens, denn Sir Maba Kaloch war schon verschwunden. Stattdessen sah ich im Fenster die Silhouette von Lady Melamori. Ich freute mich sehr, war aber nicht weiter erstaunt.
»Was für ein hübscher Traum, Unvergessliche«, begann ich fröhlich. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen.«
»Ist das wirklich nur ein Traum?«, wunderte sich Melamori. »Bist du sicher?«
»Ja. Und es ist mein Traum, nicht deiner. Ich träume von dir.«
Melamori lächelte, und ihre Silhouette wurde langsam immer durchsichtiger. Ich wollte sie festhalten, stellte dann aber fest, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich war zentner-, ja tonnenschwer.
•Ich bin schon fast zu Hause«, flüsterte Melamori erstaunt und verschwand vollständig.
Als ich erwachte, war es früher Morgen. Armstrong und Ella lagen bei meinen Füßen und schnurrten leise im Schlaf. Meine Katzen! Sie könnten das Kissen wegrücken, das als Stöpsel zwischen den Welten dient! Und dadurch könnten andere Welten in meinem Schlafzimmer landen! Kaum waren diese Gedanken durch mein schlaftrunkenes Hirn geschossen, sprang ich auf, lief zu einem kleinen Schrank und entnahm ihm Nadel und Faden. Meine Vorsicht überraschte mich selbst. Ich kehrte ins Bett zurück und nähte das Kissen an der Matratze fest. Jetzt war alles in Ordnung, und ich konnte weiterschlafen.
Kaum hatte ich den Kopf aufs Kissen gelegt, schaltete ich ab. Diesmal hatte ich allerdings keine Träume, besser gesagt: Ich konnte mich nicht an sie erinnern.