»Man könnte ihn doch einfach abnehmen ...«
Wieder begriff ich nichts, weil ich am Abend zuvor zu müde gewesen war, Juffin nach dem Ring zu fragen.
»Was redest du denn da für einen Unfug, Max? Schau her, du Steppenwunder.« Melifaro streckte mir die Hand entgegen und präsentierte mir einen ziemlich großen Ohrring aus dunklem Metall, der - anders als normaler Ohrschmuck - keinen Verschluss besaß. Vorsichtig nahm ich das kostbare Stück in die Hand. Es war schwer und warm.
»Dieser Ring lässt sich ganz leicht ins Ohr stecken, aber dazu braucht man einen Spezialisten wie mich. Denn das Metall kann das Ohr nur durchdringen, wenn man eine Zauberformel benutzt«, erklärte Melifaro mit wichtiger Stimme. »Aber ihn abzunehmen ... Im Orden des Siebenzackigen Blattes gibt es einige Leute, die darauf spezialisiert sind. Doch einfach so in die Burg Jafach zu gehen und zu sagen: »Nehmen Sie mir das Ding bitte ab. Ich habe Lust, ein wenig zu zaubern!«, ist keine besonders gute Idee. Hab ich Recht, Chef?«
»Absolut«, meinte Juffin gähnend. »Absolut. Meine Anwesenheit ist inzwischen wirklich überflüssig. Ich geh schlafen, Jungs. Ich bin todmüde.«
»Dann war der ganze Besuch in Jafach also überflüssig?«, fragte ich beharrlich. »Kommen wirklich keine Köche zu uns?«
»Überflüssig? Das braucht nur etwas Zeit! Heute landet die ganze Stadt bei Tschemparkaroke, und morgen früh melden sich schon zwei seiner Kollegen bei uns. Am Abend läuft dann die ganze Stadt zu den beiden, und übermorgen werden sich mindestens zehn Personen bei uns melden. Bald können wir uns vor Antragstellern kaum noch retten. Alles braucht seine Zeit, verstehst du?«
»Natürlich«, sagte ich und seufzte begeistert. »Ein paar Tage kann ich schon noch aushalten.«
Melifaro erhob sich. »Ich geh kurz in den Alten Dorn, denn ich bin neugierig, ob Tschemparkaroke gelogen hat oder den Ohrring wirklich nur zur Zierde trägt. Was für ein Süppchen er jetzt wohl kocht? Liebes Nachtantlitz, komm doch mit.«
»Ich werde mich hüten. Aber geh ruhig, du Suchtbolzen.«
»Respekt, Max, du läufst heute verbal ja richtig Amok. Dabei bist du nur neidisch. Zu den Magistern mit dir -ich geh jetzt mein Süppchen genießen.«
»Wer hier genießen wird, wird sich noch zeigen«, flüsterte ich, als ich endlich allein war.
Ich ging in das Arbeitszimmer, das ich mit Juffin teilte, goss mir eine Tasse Kamra ein und zog eine halb aufgerauchte Zigarette aus dem Mantel. Auch ohne Rekreationssuppe kann das Leben sehr schön sein.
An diesem Abend ging ich nirgendwohin, weil Lady Melamori schlecht geschlafen hatte und zu müde war, mit mir spazieren zu gehen. Aber ihr Versprechen, am nächsten Abend würden wir bummeln, bis mir die Beine streikten, verschlug mir den Atem. Das war besser als nichts.
Die Prognose von Sir Juffin Halli trat ein. Am nächsten Morgen erschien Madame Zizinda mit ihrem Koch im Haus an der Brücke. Am späten Nachmittag tauchte dann eine üppige rothaarige Schönheit mit stahlblauen Augen auf. Sie hatte zwei schüchterne Köche im Schlepp. Ich war Zeuge ihres Auftritts, weil ich mal wieder ein paar Stunden zu früh zum Dienst erschienen war. Sir Lukfi kam im Laufschritt angehetzt, wäre beinahe über seinen langen Mantel gestolpert und sah die späte Besucherin errötend an. Da erst begriff ich, dass die berühmte Lady Warischa vor uns stand - die Frau unseres Obersten Wissenshüters Lukfi und Wirtin des in ganz Echo berühmten Restaurants Der dicke Mann in der Kurve. Sir Lonely-Lokley griff zu den üblichen Floskeln, wie sehr wir uns alle über ihren Besuch freuten und dergleichen. Auch Melifaro ließ sich nicht lumpen und stöberte in der Schatzkiste seiner lässigsten Komplimente, bis unser Oberster Wissenshüter, der solche Situationen ganz und gar nicht gewöhnt war, ihn mit dem Ellbogen in die Seite stieß und ihm »Du Charmeur!« zuzischte.
Daraufhin rief Lady Warischa, deren stattliches Ego durch unsere Komplimente zusätzlich aufgebläht war, ihren Gatten zur Ordnung und zog dann ab. Die Köche, die unterdessen Ohrringe bekommen hatten, folgten ihr eilig.
Bald darauf ging ich mit Melamori spazieren und ließ Kurusch im Büro zurück. Der Buriwuch hatte keine Einwände mehr dagegen erhoben, nachdem ich ihm eine Pirogge versprochen hatte.
Meine Natur war diesmal zum Glück nicht Gesprächsthema. Es gab allerdings auch keinen Kuss zum Abschied, doch das betrübte mich nicht weiter. Sollte die herrliche Lady ruhig einige Zeit brauchen, um in ihrem Herzen für mich Raum zu schaffen - bitte sehr! Ich konnte mir den Luxus leisten, Geduld zu haben, da ich sie inzwischen auch im Traum sah.
Es reichte schon, die Augen zu schließen, und gleich erschien sie in einem Winkel des Schlafzimmers. Anders als das Original hatte diese Lady keine Angst vor mir, sondern näherte sich lächelnd und zwitscherte einige süße Nichtigkeiten. Allerdings konnte sie mich nicht berühren - als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen uns. Auch ich konnte nichts dergleichen tun, denn wenn ich von ihr träumte, vermochte ich mich nicht zu bewegen. Kaum war sie verschwunden, erwachte ich, wälzte mich lange im Bett herum und ließ alle Einzelheiten unseres Treffens vor meinem geistigen Auge Revue passieren.
Die Tage rasten nur so dahin. Zu Hause verbrachte ich Stunden über meinem Kissen, denn die Prozedur des Weltenwechsels mit der rechten Hand blieb langwierig und ermüdend. Aber ich hatte nichts dagegen und war glücklich, wenn mir ab und an ein kleiner Tabakraub gelang. Ethische Fragen beschäftigten mich dabei nicht besonders. Wenn ich mir keine Gedanken mache, läuft alles besser.
Abends spazierte ich mit Lady Melamori durch Echo, nachts saß ich faul im Büro und plauderte stundenlang mit Kurusch, und ein paar Stunden vor Sonnenaufgang ging ich nach Hause, um Melamori noch mal im Traum zu begegnen.
Natürlich merkte Sir Juffin schnell, dass etwas nicht stimmte, verlor aber kein Wort über meine regelmäßige Abwesenheit vom Dienst. Jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, sah ich in seinen Augen eine unbeschreibliche Neugier funkeln. Der Ehrwürdige Leiter ähnelte einem Naturwissenschaftler, der sich im Labor begeistert über seine Glaskolben beugt. Anscheinend war ich für ihn eine Art seltsamer Virus, dessen stolz verkündete Entdeckung ihm unter Kollegen Ruhm und Ehre eintragen sollte.
Tatsächlich waren inzwischen Scharen von Köchen im Haus an der Brücke aufgetaucht. Schließlich beehrte uns auch der berühmte Gopa Talabun, jener Wirt also, dem alle Gasthäuser gehörten, die ein Skelett im Namen führten - ob sie nun Gesättigtes, Betrunkenes, Dickes oder Glückliches Skelett oder noch anders hießen. Damit war auch dem Letzten von uns klar, dass Sir Juffins geniale Idee in Echo eingeschlagen hatte.
Gopa brauchte den Ohrring allerdings nicht, denn er konnte weder kochen, noch nahm er warmes Essen zu sich. Stattdessen hatte er zwei Dutzend seiner besten Köche dabei, und während Melifaro ihnen Zaubersprüche in die Ohren träufelte, predigte Talabun den unbeschäftigten Mitgliedern des Kleinen Geheimen Suchtrupps, wie schädlich es sei, sich zu überfressen. Dabei wusste er bestimmt, dass ihm niemand richtig zuhörte.
Seit unserem historischen Besuch in der Burg Jafach waren zehn Tage vergangen. Eine Stunde vor Sonnenuntergang meldete sich Sir Kofa Joch per Stummer Rede bei mir, als ich die Hand gerade wieder unter mein Kissen schieben wollte, um die sechste Zigarette des Tages zu organisieren. Bisher war es mir selten gelungen, bis Dienstantritt auch nur fünf Kippen zu ergattern, doch ich versuchte es unverdrossen weiter.
»Kommen Sie heute wie üblich im Todesmantel zum Dienst, Sir Max, aber bringen Sie auch Sachen zum Wechseln mit«, riet mir Sir Kofa. »Und machen Sie sich auf alles gefasst.«
»Ist etwas passiert?«, fragte ich erschrocken.
»Nein, aber heute Nacht wird etwas passieren, glauben Sie mir. Erwarten Sie mich kurz nach Mitternacht. Ende.«