»Und wie lange, Sir Juffin, waren Sie nicht mehr in Kettari?«
»Sehr lange. Und ich bezweifle, dass ich je zurückkehren werde. Dort habe ich keine Freunde oder Verwandten - also gibt es für mich weder Verpflichtung noch Bedürfnis, der Stadt einen Besuch abzustatten. Und sentimental bin ich ebenso wenig wie du. Aber darum geht es auch gar nicht. Ich empfinde so etwas wie ein Tabu: Ich weiß, dass ich nicht nach Kettari reisen darf. Und nach meiner Erfahrung ist so ein Tabu das Einzige, was zählt. Kennst du dieses Gefühl, Max?«
Gedankenverloren spielte ich mit einer Zigarettenkippe.
»Ich glaube, ich weiß, wovon Sie reden. Tabus haben große Kraft. Ich habe allerdings manchmal Probleme, sie von banalen paranoiden Gedanken und Gewohnheiten zu unterscheiden, die einem den ganzen Tag durch den Kopf gehen. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Natürlich. Am wichtigsten ist es, seine Gefühle klar zu spüren. Aber zurück zur Sache. Vor ein paar Jahren ist mir eine merkwürdige Geschichte passiert. In mein Büro kamen zwei flüchtige Verbrecher. Der eine rief laut, sie müssten unbedingt den Ehrwürdigen Leiter sprechen. Der andere schwieg und musterte die ganze Zeit einen Punkt an der Wand. Die beiden waren durch den Teil des Hauses an der Brücke spaziert, in dem die Stadtpolizei untergebracht ist, und dort wegen einer Kleinigkeit in Arrest genommen worden. Ihnen war die Flucht gelungen, was mich bei dem ganzen Chaos in Bubutas Behörde nicht wundert. Einer der Entflohenen - ein Mann namens Moti Fara - war mein Landsmann. Genau wie ich war er seit Jahren nicht in Kettari gewesen, seit Beginn der Epoche des Gesetzbuchs oder sogar länger. Dann aber war er in eine schwierige Lage geraten und hatte gedacht, seine Heimatstadt sei kein schlechter Ort, um sich vor der Stadtpolizei von Echo zu verstecken. Also war er mit seinem Kameraden nach Kettari gereist, und dabei hatten die beiden sich verirrt.«
»Ist das die ganze Geschichte?«, fragte ich etwas überrascht. »Vielleicht ist Ihr Landsmann etwas beschränkt?«
»Den Eindruck hat er mir nicht gemacht«, stellte Juffin trocken fest. »Nach meiner bescheidenen Einschätzung wäre Sir Moti klug genug gewesen, den Weg in seine Heimatstadt zu finden. Aber es hat einfach nicht klappen wollen, und die beiden sind nach Echo zurückgekehrt und haben sich dem Kleinen Geheimen Suchtrupp gestellt, um sich nicht weiter verbergen zu müssen. Als sie um ein Treffen mit mir baten, hat meine Neugier mir nicht erlaubt, abzulehnen. Schließlich haben die Leute hier selten solche Ideen.«
»Oft haben sie noch viel seltsamere Ideen«, murmelte ich.
»Eigentlich hast du Recht«, meinte Juffin und lächelte. »Doch wir aus Kettari sind eher praktisch veranlagt. Aber lass dich nicht ablenken - das Interessanteste kommt erst.«
»Verzeihen Sie, Juffin. Ich bin heute etwas schlecht gelaunt.«
»Allerdings! In letzter Zeit bist du so schlecht gelaunt, dass es wehtut, dich nur anzusehen«, sagte mein Chef seufzend, erhob sich, kam zu mir und zog mich überfallartig am Ohr. Das war so unangenehm, dass ich nervös loskicherte. Als ich mich beruhigt hatte, stellte ich fest, dass die schlechte Laune verschwunden war. Sogar mein gebrochenes Herz schien genesen.
»Du hast dir eine Atempause verdient«, sagte Juffin und legte mir seine Pranke auf die Schulter. »Das ist mein kleines Geschenk für dich. Eigentlich müsstest du all diese Dinge allein durchstehen, aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Zudem bin ich diesmal ganz besonders auf deine Nase angewiesen. Alles klar?«
Ich nickte schweigend und genoss, dass der lähmende Schmerz in der Brust, der so lange mein treuer Begleiter gewesen war, verschwunden war. Juffin setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und fuhr fort: »Mein Landsmann schien zu Tode erschrocken und versicherte wiederholt, Kettari sei zerstört und liege in Ruinen. Sein Begleiter war völlig durcheinander und musste ins Irrenhaus gebracht werden, wo er die ganze Zeit schwieg. Moti Fara hingegen machte auf mich einen ganz klaren Eindruck. Er sagte mir, zwei Jahre im Gefängnis Nunda - denn genau die drohten ihm - seien nichts dagegen, dass seine geliebte Heimatstadt nicht mehr existiere. Dann machte mein patriotischer Landsmann diese Geste hier ...«, sagte Juffin und tippte sich mit dem Zeigefinger zweimal an die Nase, »... und prophezeite mir, ich würde ihn - falls er fliehen sollte - nicht verfolgen, weil wir Landsleute seien. Dieses Nasenpochen ist unsere Lieblingsgeste. Sie bedeutet, dass sich zwei vernünftige Menschen immer verständigen können. Ich war so gerührt,
dass ich ihn am liebsten sofort freigelassen hätte, doch leider hatten Bubutas Leute schon herausgefunden, dass er bei mir war. Das sind wahre Patrioten!«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, so mörderisch ironisch klang die Stimme meines Chefs.
»Aber weiter im Text, Max. Einige Tage später kam wieder eine mit Teppichen beladene Karawane aus Kettari zurück, und erneut gab es einige Leute, die davon schwärmten, wie prächtig meine Heimatstadt blühe. Eigentlich hätten mich diese Nachrichten beruhigen und davon überzeugen sollen, dass meine beiden geflohenen Landsleute sich verirrt haben und in einer der zerstörten Kleinstädte rings um Kettari gelandet sein mussten. Aber eine innere Stimme sagte mir, so einfach sei die Sache nicht. Und wenn ich ein Problem länger als einen Tag wälze, ist das ein klares Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. Nur wenn die Dinge einigermaßen im Lot sind, schlafe ich ruhig. So ein Wesen bin ich. Bei dir ist's genauso, stimmt's?«
Juffin lächelte, goss mir noch eine Tasse Kamra ein und berichtete weiter: »Zu allem Überfluss schickte mein Landsmann mir obendrein Briefe. Das Wappen des Königlichen Gefängnisses Nunda steht mir bis heute vor Augen. Ich musste für Motis Korrespondenz sogar eine eigene Schublade einrichten, damit seine vielen Briefe nicht zwischen andere Unterlagen gerieten. Inhaltlich unterscheiden sich die Briefe kaum. Am besten, du schaust dir mal einen an. Er steht natürlich auf Papier, weil Gefangene keine sich selbst beschriftenden Tafeln benutzen dürfen. Aber soweit ich weiß, kommst du mit Papier klar.«
Juffin öffnete eine Schatulle, nahm ein quadratisches Blatt heraus und gab es mir. Neugierig begann ich, die stark nach rechts geneigte Handschrift zu lesen:
Siz Ehrwürdiger Leiter,
ich fürchte, Sie haben mir keinen Glauben geschenkt, doch die Stadt Kettari ist wirklich untergegangen. Außer Ruinen steht dort nichts mehr. Ich habe mich nicht verirrt, denn ich kenne meine Heimat wie meine Westentasche. Ich erinnere mich an sieben Wacharibäume am Stadttor - die Bäume stehen noch, das Stadttor nicht. Nur ein Haufen Steine und Reste der Steinmetzarbeiten des alten Kwawa Ulon sind übrig geblieben.
Ich gab Juffin den Brief zurück. Mein Chef drehte ihn gedankenverloren in den Händen und legte ihn wieder in die Schatulle.
»Dann ist er gestorben, der arme Pechvogel. Über ein Jahr ist das schon her. Dies hier nun ist sein letzter Brief, der sich ein wenig von den anderen unterscheidet. Auch für seine Korrespondenz gilt die Regeclass="underline" Je später, desto interessanter.«
Erneut reichte er mir ein quadratisches Blatt, und wieder las ich die mir nun schon bekannte Handschrift.
Sir Ehrwürdiger Leiter,
wieder habe ich mich entschlossen, Ihnen ein wenig Zeit zu rauben. Ich hoffe, dass Sie meine Briefe überhaupt bekommen. Heute Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Immer wieder musste ich an die Trümmer des Stadttors denken, die ich neben den Bäumen entdeckt hatte. Und ich erinnerte mich daran, wie lange Sacho und ich zwischen den Ruinen herumgeirrt sind. Bestimmt hat er dabei den Verstand verloren - und ich das Gedächtnis. Bis jetzt war ich überzeugt, dass wir die Stadt sofort verlassen hatten, heute Nacht aber habe ich mich daran erinnert, dass wir in den Ruinen sogar mein Haus gefunden haben. Und Sacho sagte, ich würde mich unnütz auf regen: Hier stünden doch überall prächtige Häuser, schräg gegenüber sei ein herrlicher Park, und überall würden glückliche Menschen spazieren gehen. Aber ich entdeckte nichts davon. Und als mein Freund dorthin lief, wo er viele Spaziergänger zu sehen glaubte, suchte ich lange nach ihm. Manchmal hörte ich fremde Stimmen, aber aus so großer Entfernung, dass ich nichts verstand. Nur einmal bekam ich mit, dass vom alten Sheriff Machi Ainti die Rede war, und staunte sehr darüber: Schließlich ist dieser Mann schon dreihundert fahre tot, starb also zu einer Zeit, da selbst meine Eltern noch nicht geboren waren. Jedenfalls sagte jemand, der alte Sheriff werde zurückkehren und die Ordnung wiederherstellen. Dann fand ich meinen Freund Sacho. Er saß auf einem Stein, weinte und antwortete nicht auf meine Fragen. Ich nahm ihn an der Hand, und wir kehrten nach Echo zurück. Sir Ehrwürdiger Leiter, denken Sie bitte nicht, dass ich hier etwas zusammenfabuliere. An diese Details konnte ich mich erst heute Nacht wieder erinnern, und ich zweifle sehr, dass mir nun alles präsent ist, was uns dort geschah. Ich bitte Sie, Sir: Versuchen Sie herauszufinden, was in Kettari los ist. Ich habe das Städtchen immer geliebt und meine kleine Schwester dort zurückgelassen. Wenn ich aus dem Gefängnis komme, was bald der Fall sein wird, will ich sie unbedingt finden.