»Du hast eben Kachar-Balsam getrunken, Marilyn, und willst schon ans Lenkrad? Das geht nicht - das hab ich dir schon ein paar Mal gesagt. Meine Liebe, auf unserer Reise werden wir bestimmt noch oft die Plätze tauschen. Bist du eigentlich sicher, dass du dich dem Tempo der anderen anpassen kannst? Wenn wir alle überholen, stehen wir ohne Karawanenführer da. Natürlich wären die anderen darüber schockiert.«
»Schon gut«, meinte ich beschwichtigend. »Anders als unser alter Freund Max ist Lady Marilyn eine vorsichtige Dame. Ich werde mich am Riemen reißen.«
»Ist das ein neues Geheimritual?«, fragte Lonely-Lokley sichtlich interessiert.
»Ja. Ich kann es dir beibringen, Glama, aber das dauert mindestens hundertfünfzig Jahre«, meinte ich triumphierend. Lady Marilyn erwies sich als ebenso tückisch wie mein guter alter Bekannter Max.
Doch schon Sekunden später fürchtete ich, Lonely-Lokley könnte meinen Scherz missverstanden haben. Schuldbewusst lächelte ich ihn an und sagte: »Das war nicht ernst gemeint.«
»Das hatte ich mir schon gedacht. Aber du musst darauf achten, immer mit hoher Stimme zu sprechen, Marilyn. In ein paar Minuten reisen wir nicht mehr allein. Ich würde dir daher raten, auf solche Details zu achten.«
»Du hast Recht, Glama. Keine Sorge.«
Diese Reise mit Sir Schürf, dachte ich, wird meinen Charakter effektiver stählen als die Pädagogik der alten Spartaner.
Als ich ein Dutzend A-Mobile und eine Gruppe von Leuten erblickte, die allesamt reisefertig waren, besserte sich meine Laune. Als Kind war ich oft am Bahnhof, um abfahrenden Zügen nachzusehen, von denen ich glaubte, sie führen in eine andere Welt. Die Züge - so dachte ich -waren aus einer anderen Dimension gekommen und würden nun dorthin zurückkehren. Ich beneidete die Passagiere sehr, wenn sie ihr Gepäck - wie durch die beleuchteten Fenster zu sehen - im Abteil ausbreiteten.
Jetzt hatte ich das gleiche Gefühl wie damals - nur noch stärker. Anders als in meiner Kindheit jedoch träumte ich nicht mehr davon, meine Welt zugunsten einer anderen zu verlassen, sondern freute mich bereits auf die Rückkehr nach Echo. Als elegante Lady Marilyn ging ich ohne Zögern zu der kleinen Gruppe, und Sir Schürf folgte mir.
Minuten später lernten Lady Marilyn und ihr fürsorglicher Begleiter Glama den Karawanenführer Abora Wala kennen, einen nicht eben großen, vorzeitig ergrauten Brillenträger aus Kettari, der durchaus sympathisch wirkte. Wir zahlten ihm gleich acht Kronen, also die Hälfte dessen, was er für seine Dienste in Rechnung stellte. Den Rest sollte er erhalten, wenn wir heil auf dem Hauptplatz von Kettari angekommen waren. Der Rückweg sollte kostenlos sein.
Die nächste halbe Stunde stellten wir uns gegenseitig vor und gewannen erste Eindrücke von den Mitreisenden. Lady Marilyn schlug sich dabei ausgezeichnet. Nicht ein einziges Mal sprach sie mit tiefer Stimme und stets reagierte sie brav auf ihren Namen. Schließlich bat Herr Wala um unsere Aufmerksamkeit: »Ich glaube, wir sind komplett, meine Damen und Herrn. Also können wir starten. Ich fahre vor und hoffe, Sie akzeptieren meine Restaurantwahl. Ich habe nämlich große Erfahrung auf diesem Gebiet - das können Sie mir glauben. Sollte jemand Probleme bekommen, melde er sich bitte per Stummer Rede bei mir. Ich rate Ihnen davon ab, sich von der Karawane zu trennen. Sollten Sie es doch tun, versuchen Sie hinterher bitte nicht, die Reise zu reklamieren. Ich hoffe natürlich, dass es keine Komplikationen gibt. Und damit Gute Fahrt!«
Alle stiegen in ihr A-Mobil. Offen gestanden war ich dankbar, dass Lonely-Lokley mir verboten hatte, mich ans Steuer zu setzen. So nämlich konnte ich die Mosaikgehsteige von Echo und die kleinen Häuser entlang der Straßen bewundern. Ich liebte die Stadt schon so, dass mich der Abschied fast freute, da ich schon die süße Sehnsucht spürte, zurückzukehren.
Dann sah ich die sich vor der Stadt kilometerlang hinziehenden Obstgärten, an deren Stelle irgendwann Felder und Wälder traten. Ich war wie berauscht von all den neuen Eindrücken. Sir Schürf saß schweigend am Lenkrad. Auch in Gestalt von Sir Glama Eralga war er absolut leidenschaftslos. Ich hielt unsere Reise für eine gute Gelegenheit, meine Neugier zu stillen.
»Glama, schweigst du am Steuer lieber, oder magst du dich beim Fahren unterhalten?«, fragte ich vorsichtig.
»Gespräche mit dir, Marilyn, machen mir immer Spaß - genau wie mit meinem guten Freund Max«, antwortete Lonely-Lokley ruhig.
Sündige Magister - das klang ja geradezu herzlich! Täuschte ich mich, oder unterschied sich Sir Glama wirklich vom Schnitter des Lebensfadens?
»Wenn du eine Frage nicht beantworten willst, sag mir bitte Bescheid«, bat ich.
»Was bleibt mir anderes übrig?«, gab er zurück.
»Eigentlich wollte ich nicht über dich sprechen, mein lieber Glama, sondern über meinen Freund Lonely-Lokley.«
»Perfektes Timing, Lady Marilyn - das lobe ich mir. Und nun fragen Sie, Max. Hoffentlich kann ich Ihre Neugier stillen.«
Ich räusperte mich und begann: »Eines Tages fiel Ihr Name im Gespräch mit einem alten Magister, einem Freund Sir Juffins. Kaum hatte der Alte Ihren Namen gehört, nannte er Sie den Verrückten Fischer. Juffin hat dazu nur genickt; ich hingegen war verwirrt, denn ich würde Sie nie und nimmer für verrückt halten.«
»Wir kennen uns noch nicht lange, Marilyn - daher deine Verwunderung. Meine Lebensgeschichte ist - anders als die von Sir Max - kein Geheimnis.«
»Dann schießen Sie mal los«, sagte ich verlegen.
Ehrlich gesagt hatte mir der letzte Satz von Sir Schürf (oder auch von Sir Glama) einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Erst hatte Lady Melamori, dann Sir Kofa eine Andeutung über meine dunkle Herkunft gemacht, und nun hieb Sir Schürf in dieselbe Kerbe! Sie alle spürten offenbar, dass etwas mit mir nicht stimmte. Kein Wunder - schließlich waren sie Geheimagenten. Eigentlich aber war das alles Juffins Schuld: Er hätte seinen Leuten nämlich längst reinen Wein einschenken müssen.
»Keine Sorge - ich habe nicht vor, Ihnen meinerseits Fragen zu stellen, Sir Max, denn ich weiß, dass dafür die Zeit noch nicht reif ist«, sagte Lonely-Lokley versöhnlich. »Übrigens solltest du deine Mimik besser kontrollieren, Marilyn, und dafür die Übungen, die ich dir gezeigt habe, wirklich jeden Tag machen.«
»Und zwar vierzig Jahre lang?«, fragte ich betrübt.
»Das kann ich dir nicht genau sagen. Vielleicht stellt sich der Erfolg ja schon früher ein.«
»Lassen wir meine Mimik mal auf sich beruhen, Glama. Erzählen Sie mir jetzt bitte Ihre Geschichte, Sir Lonely-Lokley.«
»Vor genau siebzehn Dutzend Jahren wurde ein Junge namens Schürf Novize im Orden der Löchrigen Tasse. Seine Familie war dem Orden eng verbunden und ließ
dem Jungen keine andere Wahl, aber damals war das ein durchaus beneidenswertes Los. Kaum sechs Dutzend Jahre später wurde der Novize zu einem Jüngeren Magister befördert und arbeitete seither als Fischexperte, war also Aufseher über die Löchrigen Aquarien des Ordens. Soweit ich weiß, hat Juffin Ihnen schon einiges über den Orden der Löchrigen Tasse erzählt, und das will ich nicht wiederholen.«
»Die Mitglieder des Ordens haben sich nur von den Fischen in den Aquarien ernährt und löchriges Geschirr benutzt, das Ihrer berühmten Tasse ähnelte, stimmt's?«
»Wenn man so will ... Jedenfalls erfüllte der Jüngere Magister Schürf Lonely-Lokley einige Jahre all seine Verpflichtungen aufs Beste.«
»Daran habe ich keinen Zweifel.«
»Das sollten Sie aber, Sir Max. Schließlich kennen Sie den Menschen, von dem ich rede, nicht. Ich habe selten einen so maßlosen, launischen und sentimentalen Kerl getroffen wie ihn. Das können Sie mir glauben, denn ich neige eher zu Unterals zu Übertreibungen. Die Ernährung der Magister des Ordens war der Selbstbeherrschung freilich nicht förderlich. Allerdings haben auch Mitglieder anderer alter Orden ungesund gelebt.«
Ich nickte. »Das hat mir Juffin auch erzählt. Ich wäre gern - wenigstens für kurze Zeit - Zeuge dessen gewesen, was in der berüchtigten Epoche der Orden los war.«