Ich spazierte an diesen wunderschönen Plätzen herum und fragte meinen Begleiter immer wieder: »Ist es hier nicht herrlich?« - »Das ist es«, antwortete ein Mann, der seltsamerweise weder meinem Freund Schürf noch dem Verrückten Fischer oder Sir Glama Eralga - dem fiktiven Gatten der fiktiven Lady Marilyn - ähnlich war.
Bei Sonnenaufgang erwachte ich noch ruhiger und ausgeglichener als sonst.
»Vielen Dank für den wunderbaren Ausflug«, sagte ich und lächelte Lonely-Lokley an, der sich gerade die blaue Skaba von Sir Glama anzog.
»Ich muss mich bei dir bedanken, weil unsere Träume Sir Max gehörten. An so schönen Orten war ich noch nie.
Das hätte ich nicht mal in den kühnsten Träumen von Ihnen erwartet, Max.«
»Ich heiße doch Marilyn«, sagte ich lächelnd. »Sündige Magister, Lonely-Lokley - selbst Sie machen mitunter Fehler!«
»Manchmal lohnt sich das, um besser verstanden zu werden«, meinte Schürf ein wenig rätselhaft und ging sich waschen.
»Wie auch immer - ohne deine Hilfe hätte ich das nicht geschafft, Glama. Auf eigenen Wunsch hätte ich dort nicht hingeraten können«, rief ich ihm nach. Dann meldete ich mich per Stummer Rede in der Küche, damit der arme Lonely-Lokley kein Tablett zu schleppen brauchte.
Die Reise war von prächtigen Frühlingsmorgen und unendlichen Wäldern geprägt, von elend langen Mittagessen in abgelegenen Wirtshäusern, von stets gleich schlecht schmeckenden Gerichten und langweiligen Monologen von Reisegefährten, denen ich höchstens zehn Worte entgegnete. Ich fühlte mich zu wohl und ausgeglichen, um die Stille durch dummes Gerede zu stören.
»Wann erreichen wir eigentlich Kettari?«, fragte Lonely-Lokley, als wir endlich mit dem Mittagessen fertig waren. Herr Abora Wala zuckte gedankenverloren die Achseln.
»Das lässt sich nicht genau sagen. Ich schätze, wir brauchen noch eine bis anderthalb Stunden. Wissen Sie, in diesem Teil der Grafschaft Schimara sind nicht alle Straßen in gutem Zustand. Vermutlich müssen wir einen Umweg machen. Aber kommt Zeit, kommt Rat.«
»Tolle Antwort«, murmelte ich, als ich auf den Beifahrersitz kletterte. »Kommt Zeit, kommt Rat - ausgezeichnet! Noch nie bin ich so erschöpfend informiert worden.«
»Bist du nervös, Lady Marilyn?«
»Ich? Wie kommst du denn darauf? Das bin ich zwar oft, doch heute auf keinen Fall.«
»Aber ich«, gab Lonely-Lokley unerwartet zu.
»Sündige Magister - das hätte ich nicht für möglich gehalten.«
»Ich auch nicht, aber ...«
»Wir Menschen sind seltsame Wesen«, stellte ich fest. »Man weiß nie, was uns widerfährt.«
»Da hast du Recht, Marilyn«, sagte Sir Schürf nickend.
Ich musste wieder mal über meinen seltsamen Namen kichern, und wir fuhren weiter. Als Beifahrer hatte ich Gelegenheit, mir in aller Ruhe die Gegend anzuschauen und einen Vorgeschmack des Geheimnisses zu bekommen, das uns erwartete.
Die Landschaft wirkte ganz gewöhnlich, soweit sich das von einer Umgebung sagen lässt, die man zum ersten Mal sieht. Nach anderthalb Stunden war mir herzlich langweilig, und meine Aufmerksamkeit ließ deutlich nach. Dann aber bog unser Karawanenführer plötzlich von der Hauptstraße auf eine verdächtig schmale Piste ab.
Nach ein paar Minuten auf einer von Schlaglöchern zerfressenen Strecke bogen wir wiederum ab. Der neue Weg erwies sich als recht erträglich. Nach ein paar sanften Bodenwellen stieg er unerwartet steil an und machte dabei eine ziemlich gefährliche Kurve. Rechts sah ich einen Felsen, der mit bläulichem Gras bewachsen war, links gähnte ein Abgrund. Jetzt hätte ich Lonely-Lokley unter keinen Umständen am Steuer ablösen mögen. Verflixt -ich hatte tatsächlich Höhenangst!
Ich erinnerte mich der berüchtigten Atemübungen und probierte, meiner Angst dadurch Herr zu werden. Sir Schürf warf mir einen erstaunten Seitenblick zu, sagte aber keinen Ton. Nach einer halben Stunde war meine Angst überstanden, was freilich nicht den Atemübungen zu danken war. Vielmehr wand der Weg sich nun durch eine Schlucht, und das vermittelte mir ein seltsames Gefühl von Geborgenheit.
»Ich habe mich gerade per Stummer Rede bei Herrn Wala gemeldet. Er hat gesagt, wir brauchen noch eine bis anderthalb Stunden nach Kettari«, meldete Lonely-Lokley gelassen.
»Das hat er doch schon heute Mittag gemeint«, murmelte ich.
»Na ja, unter diesen Umständen wundert mich das nicht. Hier sieht es ziemlich merkwürdig aus, stimmt's?«
»Ziemlich? Sündige Magister, hier sieht es extrem merkwürdig aus! Soweit ich unseren Karawanenführer verstanden habe, nimmt er diesen Weg mehrmals im Jahr. Irgendwann sollte er doch wohl wissen, wie lange die Reise dauert.«
»Das sehe ich auch so.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte ich grinsend. »Steht diese Devise womöglich auch auf dem Stadtwappen von Kettari? Na ja, was Juffin angeht, gilt sie eigentlich nicht. Am besten melde ich mich mal per Stummer Rede bei ihm. Wir können uns zwar noch keiner Ermittlungsergebnisse rühmen, aber ich will wenigstens über seinen Landsmann schimpfen.«
Also versuchte ich, Juffin Halli zu erreichen, doch das klappte zu meinem Erstaunen nicht. Es war wie damals, als ich in dieser Welt noch neu und unerfahren war und die Stumme Rede so schlecht beherrschte wie ein überforderter Erstklässler das Einmaleins. Irritiert schüttelte ich den Kopf und probierte es erneut. Nach dem sechsten erfolglosen Versuch meldete ich mich per Stummer Rede bei Lonely-Lokley, um auszuprobieren, ob ich mich überhaupt noch auf diesem Wege verständigen konnte.
»Hören Sie mich, Sir Schürf - oder Glama, wie man dich hier auch nennt, Liebster?«
»Langweilst du dich, Marilyn? Du solltest vielleicht ...«
»Ich kann Sir Juffin nicht erreichen!«, unterbrach ich ihn. »Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein. Ich hoffe, das ist kein Scherz.«
»Zu den Magistern mit dir! Ich habe jetzt Besseres zu tun, als dumme Witze zu reißen. Versuch du lieber mal, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Vielleicht stimmt ja mit mir etwas nicht.«
»Na schön, übernimm das Steuer. Das muss ich unbedingt klären. Solche Dinge dürfen nicht passieren.«
»Stimmt«, nickte ich düster und setzte mich ans Lenkrad.
Inzwischen hatten wir die Schlucht verlassen und waren wieder ein gutes Stück gestiegen und erneut an eine zähnefletschende Kluft gelangt, die gleich rechts der Straße abfiel. Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf den Weg, da ich Lonely-Lokley unmöglich gestehen konnte, Höhenangst zu haben. Lieber hätte ich uns beide umgebracht!
Mein Begleiter schwieg die nächsten zehn Minuten,
und ich wartete geduldig. Womöglich spricht er gerade mit Juffin, dachte ich. Natürlich spricht er mit ihm - und zwar ausführlich, wie es für ihn typisch ist. Dass es bei mir nicht klappt, passiert nun mal gelegentlich.
»Es herrscht Funkstille«, stellte Lonely-Lokley schließlich fest. »Ich habe nicht nur versucht, Sir Juffin zu erreichen. Außer ihm schweigen auch meine Frau, Kofa Joch, Melifaro, Lady Melamori und Polizeihauptmann Schichola. Ich habe allerdings kein Problem, Kontakt zum Karawanenführer aufzunehmen. Er hat mir aufs Neue bestätigt, dass wir in etwa einer bis anderthalb Stunden in Kettari sind. Ich glaube, ich sollte weiter versuchen, jemanden in Echo zu erreichen. Das ist wirklich eins der seltsamsten Abenteuer meines Lebens.«
»Zum Teufel!«
Mehr fiel mir nicht ein. Zum Glück richtete Lonely-Lokley seine Aufmerksamkeit nicht auf dieses fremde Wort. Ich hätte keine Lust gehabt, ihm zu erklären, was ein Teufel ist.
Einige quälende Minuten vergingen, und ich dachte kaum mehr an die Gefährlichkeit unserer Strecke. Jetzt, da ich mich mit Problemen herumzuschlagen hatte, die viel gravierender waren, erwies sich meine Höhenangst als eher dumme Angewohnheit.