Ich dachte an das Kraut, das Lady Sotova mir vorgesetzt hatte und das Wunderbare oder Sonderbare Hälfte hieß (oder so ähnlich). »Du bleibst, wer du bist, aber die Leute werden glauben, sie hätten es mit jemand anderem zu tun«, hatte sie mir damals gesagt. Offenbar konnte ich inzwischen einfach als der erscheinen, der ich sein wollte. Umso besser!
Ehe ich das Haus verließ, schob ich kurz die Hand unters Kissen. Ein einziger General war eindeutig zu wenig für eine lange, sicher sehr abenteuerliche Nacht. Nach ein paar Minuten betrachtete ich verwirrt eine halb leere Zigarettenschachtel, auf der ein steifbeiniges Dromedar in die Ferne sah. Neun frische Kippen! Ich sandte einen dankbaren Blick zur Decke.
»Lieber Gott«, begann ich ehrfürchtig. »Erstens freue ich mich, dass es dich gibt, und zweitens bist du ein fantastischer Kerl und mein bester Freund.«
Dann öffnete ich die Tür und trat ins nachtkühle Kettari hinaus. Die Beine trugen mich wie von selbst auf die andere Uferseite. Ich ging über eine gut beleuchtete Steinbrücke und sah mir die Gesichter ihres drachenartigen Skulpturenschmucks an. In der Ferne lagen ein Labyrinth enger Gassen und da und dort der hell erleuchtete Klecks eines Platzes. Ich versuchte nicht mal so zu tun, als wäre ich mit meiner Mission beschäftigt, sondern genoss einzig den Spaziergang.
Die ganze Nacht zog ich durch Kettari und berauschte mich an der Luft und den neuen Eindrücken. Ich ging durch viele Straßen und trank in winzigen Imbissstuben, die die ganze Nacht geöffnet waren, einige Portionen Kamra und manch anderes Getränk. Unerschrocken öffnete ich fremde Gartentore, betrat dunkle Höfe, rauchte dort meine Zigaretten und betrachtete dabei den grünlichen Mond am schwärzlichen Himmel. Einmal trank ich etwas Wasser von einem Springbrunnen. In einem anderen Garten pflückte ich ein paar süßsauer schmeckende Beeren von einem kleinwüchsigen Busch, der -den Magistern sei Dank! - keine Ähnlichkeit mit dem Baum der Erkenntnis hatte.
Bei Sonnenaufgang fand ich mich an derselben Brücke wieder, an der meine nächtliche Reise begonnen hatte. Ich hätte die drachenartigen Gesichter küssen mögen, die mich so unerschrocken anstarrten, beschloss aber, mich zu beherrschen, denn das wäre vulgär gewesen und hätte eine falsche Note ins Finale dieser herrlichen Nacht gebracht. Und hier in Kettari wollte ich vollkommen erscheinen.
Darum ging ich gleich nach Hause, zog mich aus, rollte mich im Bett zusammen und schlief selig ein.
Gegen Mittag erwachte ich und fühlte mich, als hätte ich eine Spritze Kachar-Balsam bekommen und als würde die wohltuende Flüssigkeit nun durch meine Adern rollen. Ein tolles Gefühl!
Sir Lonely-Lokley war nicht zu Hause, und das machte mich etwas nervös. Ich spürte zwar keine Unruhe, aber eine gewisse Sorge, gemischt mit Neugier und Verantwortungsgefühl.
»Wie lange der wohl verschwunden bleibt?«, brummte ich. Nach einigem Überlegen meldete ich mich per Stummer Rede bei ihm.
»Sir Schürf, geht es Ihnen gut?«
»Durchaus. Ich bin allerdings beschäftigt. Lassen Sie uns später reden. Und seien Sie bitte nicht verärgert.«
»So, so - der Herr ist beschäftigt! Sieh mal einer an! Ich wüsste gern, womit«, sagte ich streitlustig halblaut vor mich hin. Aber das Problem war eigentlich erledigt: Sir Schürf war wohlauf, und mehr brauchte ich erst mal nicht zu wissen.
Meiner Hauptsorge ledig, beschloss ich zu frühstücken. Ich überlegte kurz und entschied, bei Tageslicht durchaus allein als Lady Marilyn durch Kettari spazieren zu können. Ich brauchte mich also diesmal nicht mit Verkleiden aufzuhalten.
Kurz darauf begeisterte eine elegant gekleidete Lady mit ihrem mächtigen Appetit die Wirtin einer kleinen Imbissstube.
Als Lady Marilyn satt war, machte sie einen Einkaufsbummel. Ich brauchte unbedingt einen Stadtplan von Kettari! Erstens konnte er mir nützlich sein, und zweitens üben Karten und Atlanten seit jeher eine magische Anziehung auf mich aus. Eigentlich hätte ich sie sammeln sollen, aber ich bin kein Typ dafür: All meine Sachen verschwinden stets in den dunkelsten Ecken der Wohnung oder bleiben bei Freunden liegen.
Ich kaufte mir also einen sorgfältig skizzierten Stadtplan von Kettari, nahm in einem kleinen, namenlosen Wirtshaus Platz, bestellte Kamra und schaute mir meine Neuanschaffung genau an. Ich machte mein Quartier ausfindig, die Brücke mit den drachenartigen Figuren, die Gaststätte Altes Haus am Lustigen Platz ... Ja, diesen Namen verdiente der Platz durchaus, wenn ich bedachte, wie Sir Schürf dort am Vortag getobt hatte.
Als ich meine Kamra ausgetrunken hatte, ging ich weiter. Ich war in die Brücken von Kettari verliebt und wollte mindestens zweihundert Mal den Mijer überqueren, den hiesigen Fluss also.
Ich ging über eine mit roten Ziegeln gepflasterte Brücke ans andere Ufer, bummelte ein wenig durch die Stadt und versuchte, die Orte aufzusuchen, die mich in der Nacht so begeistert hatten. Einmal mehr musste ich feststellen, dass Dunkelheit die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert: Ich entdeckte keine einzige Gasse wieder!
Dieser merkwürdige Umstand brachte mich dazu, etwas recht Seltsames zu tun. Ich betrat einen winzigen Laden, kaufte mir einen Bleistift und trug meinen Weg in den neu erworbenen Plan ein. Ich dachte, so wäre es leichter, ihn zu wiederholen und meine Eindrücke zu vergleichen.
Nachdem ich damit fertig war, sah ich mich im Laden um. Er stand voller Dinge, die so hübsch wie nutzlos waren, und sah aus wie viele Antiquitätenläden in der Altstadt von Echo, in denen ich normalerweise den Löwenanteil meines Gehalts ließ. Das Angebot des Ladens war ein einziger Appell an meine Verschwendungssucht, und ich sah kurz in die Manteltasche.
Sündige Magister! Ich fühlte mich fast wie ein Bettler: Unser gesamtes Reisegeld befand sich - in Tagesrationen aufgeteilt - in einem Beutel, den Lonely-Lokley am Gürtel trug. Noch gestern Abend hatte ich das für den besten Aufbewahrungsort gehalten ... Ich hatte höchstens zehn Kronen Kleingeld in der Tasche. Für jeden Bewohner der Hauptstadt wäre das ein Vermögen gewesen, aber nicht für mich. Beinahe dreißig Jahre bescheidenes Leben hatten nichts genutzt: Ich machte gerade eine Phase pathologischer Verschwendung durch. Ich spürte das wilde Bedürfnis, mit Geld um mich zu werfen, und bekam bei dem Gedanken an Rechnungen und an mein Budget Kopfschmerzen.
Ich beschimpfte mich, nannte mich mindestens dreißig Mal Dummkopf und kapitulierte dann. Nein, einen so hübschen Laden konnte ich unmöglich ohne Souvenir verlassen. Obendrein war mir ein zweiter Stadtplan von Kettari aufgefallen, der raffiniert auf Leder genäht war -ein echtes Kunstwerk!
»Was soll der denn kosten?-, fragte ich den Verkäufer, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte.
»Für Sie nur drei Kronen«, antwortete der junge Mann frech.
Dieser Preis war unverschämt. Sachen, die noch aus der Epoche des Gesetzbuchs stammen, waren selbst in der Hauptstadt billiger zu haben!
»Das muss ich mir noch überlegen«, meinte ich und verzog das Gesicht. »Ich habe den Eindruck, eine Krone ist vollauf genug, und die bin ich bereit zu zahlen. Leichtsinn muss manchmal sein.«
Der Verkäufer musterte mich ungläubig. Ich machte die hiesige Lieblingsgeste und tippte mir zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze. Anscheinend war das die beste Lösung für alles, da die Situation wie gewünscht endete.
Ein paar Minuten später saß ich bereits in einer hübschen, gemütlichen Imbissstube, bestellte mir eine Portion Kamra und sah mir den neu erworbenen Stadtplan an.
Eigentlich habe ich nie zu den besonders aufmerksamen Leuten gehört, und hätte ich nicht die Angewohnheit, auf jedem Plan mein Quartier zu suchen, hätte ich sicher nichts gemerkt.
Aber was war los mit meinem Haus? Auf dieser Karte gab es gar keine Alte, wohl aber eine Erfrischende Promenade! Ich legte beide Pläne nebeneinander und verglich sie aufmerksam. Es gab noch viele andere Unstimmigkeiten, und erstaunt schüttelte ich den Kopf. Allem Anschein nach war der erste Stadtplan der richtige. Jedenfalls war ich mit ihm unterwegs gewesen und hatte dort meine Route eingetragen. Oder waren beide Karten nutzlos?