Ich empfand eher Mitgefühl als Mitleid für sie. Was ihr widerfahren war, betraf auch mich. Der Schmerz von Lady Tanita erreichte mich wie Fernsehergeräusche aus dem Nebenzimmer: Er rückte mir nicht unmittelbar zu Leibe, doch ich konnte mich auch nicht gegen ihn abschotten.
Nichts ist leichter zu vollbringen als das Unmögliche! Man muss nur intensiv daran denken, was zu tun ist, und das Bewusstsein abschalten. Wenn man dann wieder zu sich kommt, ist alles erledigt.
Ich schwöre Stein und Bein: Als ich die schreckliche Pastete in einen Lochimantel wickelte, spürte ich nichts -genauso wenig wie später, als ich meinen Lieblingszauber anwandte und sie zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken verschwinden ließ. Meine Gefühle schwiegen sogar, als ich durch die menschenleeren Straßen zum Haus an der Brücke ging - als hätte ich einen Teil meiner selbst in Erwartung besserer Zeiten schockgefroren.
Im Büro grübelte ich ernsthaft, wo ich meine Beute lagern sollte. Gehörte sie eher in die kleine, dunkle, vollständig isolierte Beweismittelkammer oder in das geräumige Zimmer, das als Leichenhalle diente und fast immer leer stand? Ich beschloss, Kurusch zu fragen.
»Wenn du wirklich glaubst, diese Pastete sei mal ein Mensch gewesen, handelt es sich wohl um eine Leiche.«
Ich war erleichtert: endlich Klarheit!
Als der appetitlich riechende Verstorbene allerdings auf einem Obduktionstisch gelandet war, wurde ich erneut schwach, ging meine Hände waschen und schrubbte sie eine halbe Stunde lang bis zum Ellbogen.
Danach fühlte ich mich deutlich besser und kehrte in mein Büro zurück.
»Ein schöner Jahreswechsel ist das gewesen«, meinte ich und zwinkerte Kurusch zu. »Er hat mir eine hübsche Lady und viel zu essen gebracht.«
»Du machst wohl Witze, Max, oder?«, fragte der Buriwuch vorsichtig. »Du wirst doch nicht etwa ... obwohl -die Leute essen ja alles Mögliche.«
»Natürlich mach ich Witze«, sagte ich und streichelte den flaumigen Vogel. »Weißt du zufällig, ob es hier noch normale Kamra gibt? Also eine, die nicht ich zubereitet habe?«
»In Melifaros Büro steht ein fast voller Krug«, meldete der Buriwuch. »Ich hab gesehen, wie er geliefert wurde, und weiß, dass Melifaro vorhin gegangen ist. Piroggen wurden übrigens auch gebracht. Wer weiß ...«
»Alles klar.«
Hals über Kopf sprang ich ins Büro des Tagesantlitzes des Ehrwürdigen Leiters. Auf seinem Schreibtisch standen tatsächlich ein Krug Kamra und ein paar Piroggen. Melifaro war so überstürzt in sein endlich von der Verwandtschaft geräumtes Haus geeilt, dass er nicht mal zu Ende gegessen und getrunken hatte, obwohl er das bei seinem Tempo in einer Minute geschafft hätte. Kurusch und ich hatten also Glück, denn in dieser letzten Nacht des Jahres hätten wir nicht mal die fantastische Madame Zizinda erreichen können.
Bis zum Morgengrauen trank ich nicht nur die ganze Kamra, sondern half auch Kurusch wieder mal dabei, seinen Schnabel von süßer Creme zu reinigen. Ich tat sogar noch mehr und entwickelte einen Plan für unser weiteres Vorgehen. Dabei verspürte ich den gleichen Eifer wie die streitsüchtige Lady Melamori. Zum ersten Mal lag ein Fall, mit dem ich mich von Anfang an beschäftigt hatte, ganz allein in meinen Händen. Ich wollte ihn unbedingt lösen und dabei natürlich alles richtig machen. Klar, dass ich das nicht allein schaffen konnte, sondern auf Hilfe angewiesen war, doch ich wollte Juffin nicht nur mit einer schrecklichen Nachricht überraschen, sondern auch mit einem fertig ausgearbeiteten Plan.
Anscheinend hatte auch Sir Juffin etwas gespürt, denn er kam viel früher als sonst ins Büro.
»Ich hab ziemlich schlecht geschlafen«, bemerkte mein Chef düster und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Ist bei dir alles in Ordnung, Max?«
»Bei mir ja. Aber von einer netten Lady kann ich das nicht behaupten. Diese Nacht hat uns eine Witwe mehr beschert.«
Ich erzählte Sir Juffin in aller Ruhe, was es zu erzählen gab.
»Donnerwetter! Ich wüsste gern, ob Madame Zizinda ihre Spelunke schon geöffnet hat oder sich noch erholt. Für gute Kunden wie uns könnte sie doch eine Ausnahme machen, was? Ich schau mir nur schnell noch die Pastete an, die du mitgebracht hast, und dann gehen wir frühstücken.«
Nachdem wir unseren Appetit durch einen Besuch bei der Leiche angeregt hatten, landeten wir im Fressfass. Ich wüsste gern, welcher Logik wir dabei gefolgt waren.
Madame Zizinda begrüßte uns schon am Eingang. Offenbar hatte sie einen guten Instinkt.
»Juffin, ich hatte viel Zeit, mir über alles Gedanken zu machen«, begann ich und blickte errötend auf meinen Teller. »Ich hab einen Plan, obwohl ...«
»Was ist los mit dir, Max?«, fragte mein Chef erstaunt. »Wo ist deine viel gepriesene Selbstsicherheit?«
»Als ich meinen Plan entwickelte, kam ich mir sehr schlau vor, doch inzwischen ... Bestimmt haben Sie auch eine Idee, aber die dürfte kaum zu meinen Vorstellungen passen.«
»Schieß los«, meinte Juffin und klopfte mir freundschaftlich zwischen die Schulterblätter. »Viel Ahnung hab ich auch nicht. Wie kommst du nur darauf, ich hätte einen Plan?«
»Ich weiß nicht, ob es schon in der Epoche der Orden etwas Ähnliches gegeben hat, und würde deshalb gern unser Archiv konsultieren. Lukfi soll die Buriwuche befragen. Wenn es vergleichbare Fälle gibt, kann uns das helfen. Dann müssen wir herausfinden, womit sich dieser Karwen Kowareka beschäftigt hat. Womöglich hatte er Kontakt zu Weisen Magistern oder war Mitglied eines verbotenen Ordens oder so. In diese Richtung sollten wir ermitteln. Ich glaube, das ist für Sir Kofa ein Kinderspiel. Und natürlich sollte sich auch Melamori das Schlafzimmer der Kowarekas ansehen, damit wir wissen, ob ein Fremder es betreten hat. Daran glaube ich zwar nicht, möchte es aber definitiv ausschließen können. Ich selbst werde mich mit Lady Tanita unterhalten, weil sie mich sympathisch findet. Ich hab ihr einen dummen Rat gegeben, was sie machen soll, um nicht verrückt zu werden,
und wir haben uns ein wenig angefreundet. Das Ganze sollte unter der Regie von Melifaro stehen, denn er weiß am besten, wie er uns die Bearbeitung des Falls erleichtern kann. Außerdem versteht er sich gut mit den Mitarbeitern von Bubuta Boch. Das war's.«
»Ausgezeichnet«, rief Sir Juffin erfreut. »Da kann ich ja heute schon in Rente gehen. Du bist wirklich ein Profi. Und jetzt Guten Appetit.«
Mit Heißhunger stürzte ich mich auf das Essen, das bereits serviert worden war.
»Gehen wir also nach deinem Plan vor«, entschied Juffin. »Du hast wirklich fast alles bedacht. Ich habe nur einen Einwand.«
»Nämlich?«, fragte ich mit vollem Mund und war sehr zufrieden, dass mein Chef nur einen Kritikpunkt gefunden hatte.
»Du musst dich unbedingt daran erinnern, wo du diesen Duft schon mal gerochen hast«, sagte er ernst.
»Ach, Juffin - ich wäre beinahe verrückt geworden, als ich das versucht habe. Und das Resultat war gleich null.«
»Ich kann dir helfen. Der Duft stammt nicht aus deiner Heimat - glaub mir das. Er ist sehr seltsam, aber von hier. Geh also spazieren, besuche all die Orte, an denen du schon mal warst, und schnuppere. Wer weiß ...«
»Na gut, obwohl ... Wer kann mir garantieren, dass wieder das Gleiche gekocht wird?«
»Du bist ein Glückspilz, Max. Das ist die einzige und einzigartige Gewähr deines Erfolgs. Hauptsache, du bekommst keinen Schnupfen - das würde uns im Moment schlecht passen. Aber jetzt gehen wir ins Büro. Du wirst Anweisungen erteilen, und ich werde das genießen.«
»Sie lachen?«
»Aber nicht doch! Dein Plan ist wirklich sehr gut und verdient höchstes Lob. Jetzt muss er nur noch umgesetzt werden.«
»Juffin, es ist für mich leichter, etwas allein zu machen, als ein paar Leuten zu erklären, was sie tun sollen.«
»Das kenne ich, aber das Leben ist kein Zuckerschlecken. Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«
Wir kehrten ins Haus an der Brücke zurück. Rasch entschied Juffin, er könne nun nach Hause gehen und ein paar Träume weiterträumen, da sein Vertrauen in mich grenzenlos sei. Das warf mich um. Ich begriff, dass ich diesen Fall bis zum nächsten Tag klären musste - sonst würde ich vor Scham vergehen und als bläulicher Staub in einer dunklen Ecke des Hauses an der Brücke enden. Und dunkle Ecken gab es bei uns genug.