Kaum hatte ich das Tor durchquert, glaubte ich, von einer Steilküste hinunter aufs Meer zu schauen. Doch dieser Eindruck hielt nur eine Sekunde an, denn im nächsten Moment sah ich mich schon den gewaltigen Wacharibäumen gegenüber, an denen wir bei unserer Ankunft vorbeigekommen waren. Der grüne Mond beleuchtete freundlich meinen Weg, und ich betrachtete ihn mit ehrlicher Dankbarkeit. Nie hätte ich gedacht, dass dieser ferne Himmelskörper mir einmal so viel bedeuten würde.
Ich ging eine breite Chaussee entlang - zweifelsohne den Weg, auf dem wir nach Kettari gelangt waren - und stellte fest, dass sich meine Stimmung stetig besserte. Meine kindischen Ängste verkrochen sich wieder in den dunklen Höhlen des Unterbewusstseins. Dort würden sie sicher nicht lange bleiben, doch vorläufig war ich sie los.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange mein Spaziergang gedauert hatte, doch irgendwann merkte ich, dass es heller wurde. Dann hielt ich an und sah erschrocken zum Himmel. Es war doch kaum Mitternacht gewesen, als ich das Haus verlassen hatte ...
Hältst du dein Zeitgefühl wirklich für intakt, Freundchen?, fragte ich mich streng. Könnte das lange Gespräch mit Sir Machi Ainti nicht deine innere Uhr verwirrt haben? Schließlich wärst du unter all den Informationen, die er dir gegeben hat, fast zusammengebrochen.
Ich sah mich um, und mein Herz schlug mir bis zum Hals - aber eher aus Freude, nicht aus Angst: Direkt vor mir sah ich die Talstation einer Drahtseilbahn und weiter hinten ... die seltsame, fast menschenleere Bergstadt aus meinen Träumen. Eindeutig erkannte ich die Silhouette der Häuser und Türme, und auf einem Dach saß ein Wetterhahn. Die fantastische Stadt war sehr nah, und ich konnte die Drahtseilbahn benutzen, die in dieser Gegend ohnehin das einzige Transportmittel war. Als ich in der Kabine saß, hatte ich nicht mal Höhenangst! Eigentlich hatte ich vor gar nichts mehr Angst ...
Zehn Minuten später verließ ich die Gondel und trat auf eine enge Straße, die ich seit der Kindheit kannte. Ach, Melamori, dachte ich, hier sollten wir spazieren gehen, nicht im öden Echo. Muss ich so einen wunderbaren Ort ganz allein genießen? Ich kippe gleich aus den Latsehen - das ist wirklich zu viel des Guten. Aber natürlich wurde ich nicht ohnmächtig.
Ich kannte die Stadt besser als meinen Geburtsort und hatte den Eindruck, nach Hause zurückzukehren, denn diesmal war ich nicht im Traum, sondern bei vollem Bewusstsein hier gelandet.
Ich erinnere mich allerdings kaum an Einzelheiten dieses berauschenden Spaziergangs. Ich weiß nur, dass ich durch die ganze Stadt geschlendert bin, deren Namen ich nicht kannte. Der Ort war nicht völlig menschenleer: Ab und an traf ich einzelne Fußgänger, deren Gesichter mir bekannt vorkamen, und manche grüßten mich sogar mit kerniger Stimme, was mich nicht weiter wunderte.
Ich erinnere mich nur, irgendwann so müde gewesen zu sein, dass ich mich in ein Straßencafe setzte, wo ich gleich eine kleine Tasse türkischen Kaffee bekam. Einige Zentimeter über der Tasse hing ein Ast voller Pflaumen, die ich problemlos pflücken, aber auch hängen lassen und bewundern konnte. Ich griff nach einer Zigarette und schnippte gedankenverloren mit den Fingern. Sofort stieg grünlich schimmernder Rauch auf, und die Zigarette glühte. Ich zuckte die Achseln, als wäre es für mich die normalste Sache der Welt, eine Kippe so anzuzünden. Es ist eine Kleinigkeit, sich an Zauberei zu gewöhnen, doch solche Wunder sollten öfter geschehen.
Dann ging ich weiter und spazierte durch einen menschenleeren Park im englischen Stil. Sündige Magister -diesen Ort kannte ich doch aus meinem anderen Traum! Dann sah ich wieder elf Wacharibäume und das Stadttor und kehrte nach Kettari zurück.
Die Sonne stieg gerade über den Horizont, und ich merkte, dass ich so müde war, als ob mein Spaziergang Tage gedauert hätte. Vielleicht war ich ja wirklich so lange durch die Stadt gezogen? Aber egal - jetzt musste ich nach Hause gehen und schlafen. Sollte die Sonne machen, was sie wollte.
Im Gästezimmer erwartete mich Sir Schürf.
»Ich freue mich, dich gesund und guter Dinge zu sehen«, sagte er herzlich. »Als ich nach Hause kam, hab ich mich über deine Abwesenheit gewundert - immerhin sind wir hierher gereist, um ein Rätsel zu lösen. Aber am nächsten Tag ...«
»Am nächsten Tag? Sündige Magister, wie lange war ich denn fort?«
»Um diese Frage beantworten zu können, müsste ich wissen, wann du das Haus verlassen hast. Ich warte seit vier Tagen auf dich, aber ich war ja auch einige Zeit nicht da.«
»Auweia«, stöhnte ich. »Mit dem Schlafen wird es jetzt wohl nichts. Ich muss mich erst zurechtfinden. Wo ist die einzige Freude meines Lebens? Das nette kleine Fläschchen?«
»In deiner Reisetasche.«
»Schürf, das ist wirklich toll«, meinte ich und nahm einen kräftigen Schluck Kachar-Balsam, was meine Müdigkeit abrupt vertrieb. »Bist du überhaupt noch der gute alte Lonely-Lokley? Jetzt, wo du mich nicht mehr Lady Marilyn nennst, nicht mehr ständig wie ein Pferd wieherst und mich sogar weiterhin duzt? Bin ich vielleicht gestorben und ins Paradies gekommen?«
»Ich glaube, es wäre absurd, dich weiter Marilyn zu nennen. Und es wäre sinnlos, dich zu siezen, nachdem du schon Bekanntschaft gemacht hast mit ...«
»... einer sehr netten Ausgabe von Sir Schürf Lonely-Lokley«, sagte ich lächelnd. »So ist es auch besser. Das ewige Siezen ist mir schon lange auf die Nerven gegangen. Aber warum wäre »Lady Marilynabsurd?«
»»Sieh dich doch im Spiegel an, Max. Zum Glück kennt dich in Kettari kaum wer, und wir können die Stadt auch ohne Karawane verlassen. Denn nur so bleibt unser Inkognito gewahrt.«
Ich sah erstaunt in den Spiegel. Ein fremdes, verwirrtes und müdes Gesicht starrte mir entgegen. Nein, das war kein Fremder - das war ich selbst! Offenbar hatte ich fast vergessen, wie ich früher ausgesehen hatte.
»Furchtbar«, sagte ich angewidert. »Wem ähnele ich bloß? Mein Leben lang war ich sicher, ein sympathischer Typ zu sein, und jetzt? Wo ist das süße Gesicht von Lady Marilyn geblieben? Na ja, außer uns kennt sie ja fast keiner. Schürf, sag mir bitte, ob deine letzten Tage schön waren. Ich hätte mich per Stummer Rede bei dir melden sollen, aber ich dachte immer, du würdest gleich kommen.«
Lonely-Lokley zuckte ungerührt die Achseln.
»Ich weiß nicht, wo du gewesen bist, Max, aber ich habe mehrmals versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen.«
»Und ...?«
»Absolut nichts, wie du dir denken kannst. Aber ich wusste, dass du lebst, weil ... Na ja, ich bin dir auf die Spur getreten. Das kann ich zwar nicht so gut wie Lady Melamori, aber zur Not schaff ich es schon. Die Spur eines Lebenden unterscheidet sich klar von der eines Toten. Was das anlangte, war ich beruhigt. Die Pflicht hat mich dazu gezwungen, obwohl ich wusste, dass ich mich nicht in deine Angelegenheiten einzumischen habe. Deine Fährte hat zur Stadtmauer geführt, aber dort habe ich gespürt, dass ich nicht weitergehen sollte. Es war ein sehr unangenehmes Gefühl, das ich nur ungern wieder erleben möchte. Jedenfalls wusste ich, dass mit dir alles in Ordnung ist.«
»Das tut mir leid für dich«, sagte ich aufrichtig. »Weißt du, wo ich war? Du kennst doch die Stadt meiner Träume? Die mit der Drahtseilbahn? Erinnerst du dich?«
Lonely-Lokley nickte phlegmatisch: »Du solltest aber nichts davon erzählen, Max. Ich habe das Gefühl, es wäre besser, wenn du schweigst. Klar?«
»Klar«, sagte ich und sah ihn erstaunt an. Dann kam mir ein anderer Gedanke. »Wieso eigentlich? Hast du etwa das gleiche unangenehme Gefühl wie am Stadttor?«
Lonely-Lokley nickte.
»Gut, ich werde schweigen wie ein Grab - Ehrenwort. Weißt du, ich muss jetzt etwas dösen. Ich hoffe, nach diesem Zaubertrank reichen mir zwei, drei Stunden, und dann erzählst du mir alles. Oder nein, sag's am besten jetzt - sonst sterbe ich vor Neugier: Was hast du die ganze Zeit getrieben? Ich meine eigentlich nicht dich, sondern den lustigen Mann, der sich so tatendurstig verabschiedet hat. Was hat er angestellt?«