»Ist das ein Hotel?«, fragte ich erstaunt. »Ein Heim für tote Magister, in dem sie gegen mäßige Bezahlung ein Zimmer mit Tisch und Bett bekommen?«
»Ich glaube, es ist tatsächlich eine Art Hotel«, meinte Lonely-Lokley kühl und schien wenig erbaut von meinem losen Mundwerk. »Dir ist hoffentlich klar, dass uns eine schwere Aufgabe bevorsteht?«
»Das schon, aber ich finde die Vorstellung, dass ein Toter im Hotel wohnt, lustig. Ich wüsste gern, woher er das Geld dafür nimmt. Vielleicht hat er ja noch ein Konto bei der Bank?«
»Er muss hier irgendwo sein«, murmelte Lonely-Lokley finster vor sich hin.
Entschieden öffnete ich die Haustür.
Die Schwelle knackte unter unseren Füßen.
»Wir sind da«, stellte Lonely-Lokley ruhig fest und blieb vor einer unauffälligen weißen Tür stehen, auf der nur gerade eben noch der Schriftzug Zimmer Nr. 6 zu erkennen war. Tja - ich hab einfach die Neigung, mir die unwichtigsten Details zu merken.
»Na los, Max, mach auf.«
»Ach so, du hast ja keine Hand frei, wenn ich so sagen darf«, meinte ich lächelnd und öffnete die Tür. Vor einer halben Ewigkeit hatte ich in meinem früheren Leben mal gelesen, was Napoleon gesagt haben soll, als man ihn nach dem Geheimnis seiner Siege gefragt hat, nämlich: »Wenn das Chaos groß genug ist, läuft alles von allein« - oder so. Napoleon war ein Spaßvogel, aber er hat kein gutes Ende genommen.
Am Fenster und mit dem Rücken zu uns saß ein beinahe kahler, magerer Mensch im hellen Lochimantel. Ich konnte noch denken: »Prima, Max, jetzt fängst du sogar Fantomas.« Dann zuckte ein Blitz unter Lonely-Lokleys Mantel hervor und traf den alten Mann an der Schulter. Sie erglühte in weißlichem Licht, und dann war alles wie zuvor.
Offenbar war Schurfs erster Angriff nicht gerade gefährlich gewesen und hatte den Alten allenfalls zum Lachen gebracht. Jetzt drehte er sich um, und in seiner Miene stand keine Freude, wie man sie beim Treffen mit einem guten Bekannten hätte erwarten können.
»Grüß dich, Fischer-, murmelte Sir Kiba Azach, der ehemalige Große Magister des Ordens der Wasserkrähe - auch bekannt als unrechtmäßig getöteter Magister (für mich einfach Fantomas).
Das Schlimmste war, dass Kiba und Sir Schürf sich sehr ähnlich waren. Nicht umsonst hatte Juffin mich darauf aufmerksam gemacht, dass Schürf ein sehr unauffälliges Gesicht hatte und viele Bewohner Echos ihm ähnelten. Und ich Dummkopf hatte ihm nicht geglaubt.
Die vielen Jahre als Toter hatten an Sir Kibas Attraktivität gezehrt. Er hatte ernsthafte dermatologische Probleme, denn seine Haut war bläulich-gelb, porös, glänzte unschön und war insgesamt ungemein Ekel erregend. Das Weiße seiner Augen war dunkel, beinahe zimtfarben, die Pupillen selbst dagegen hell - das war auch nicht gerade sexy. Er wirkte auf mich so widersprüchlich, dass ich ruhig wurde: So ein seltsames Wesen, dachte ich, kann einem Kämpfer wie Lonely-Lokley unmöglich schaden. Da hatte ich mich freilich getäuscht!
Der Mann war sehr erfreut, mit uns plaudern zu können. Auch den zweiten Blitz, der ihn diesmal in die Brust traf, bemerkte er kaum, sondern redete einfach weiter: »Du hast dich wunderbar vor mir versteckt, Fischer. Allerdings warst du nicht klug genug, Orten wie dieser Stadt aus dem Weg zu gehen. Hast du nie daran gedacht, dass neu geschaffene Welten Träumen ähneln? Hier ist deine Kraft unwirksam. Hast du das nicht gewusst?«
Ich wandte mich an Lonely-Lokley und hatte den Eindruck, dass der Tote uns nur noch ein wenig erschrecken wollte, ehe wir ihn nach allen Regeln der Kunst zur Strecke bringen würden. Doch in der Miene von Sir Schürf stand panische Angst, während er zugleich wirkte, als würde er einschlafen.
»Ich mache dir keine Vorwürfe.«
Die klirrende Stimme von Kiba Azach katapultierte mich in die Wirklichkeit zurück. Nun wandte er sich an mich: »Verschwinde! Das ist ein alter Streit zwischen ihm und mir!«, rief der tote Magister und wedelte mir mit den Resten seiner Linken vor der Nase herum.
Kalte Panik schnürte mir die Kehle zu. Die alptraumhafte Vertracktheit der Situation warf mich aus dem Gleis. Bisher hatte ich geglaubt, ich könnte mir die gefährliche Welt unbesorgt hinter dem Rücken des unbesiegbaren Lonely-Lokley ansehen. Nun aber dachte ich seltsam ergriffen: Alter schützt vor Torheit nicht! Und was Torheit anlangte, hatten wir heute womöglich einen neuen Rekord aufgestellt. Wir besaßen so viel davon, dass wir sie eimerweise an Witwen und Waisen hätten verteilen können.
Dann hörte ich auf zu denken, denn ich war in die Enge getrieben, und es galt: Nicht denken - handeln!
Als Erstes spuckte ich in das speckig glänzende Gesicht des toten Magisters. Ich glaubte zwar nicht, dass dies viel helfen würde, hatte aber keine originellere Idee. Doch zu meinem Erstaunen verbesserte diese Attacke die Gesamtlage. Die Spucke tötete unseren Gegner natürlich nicht, denn er war ja schon tot, doch mein berühmtes Gift durchlöcherte immerhin den welken Hals von Kiba Azach. Als sich dort ein unappetitliches Loch bildete, staunte er sehr. Zwar konnte ich Lonely-Lokley keine Aufmerksamkeit mehr widmen, sah ihn aber aus dem Augenwinkel langsam wieder zu Kräften kommen und hatte den Eindruck, ihm noch etwas Zeit verschaffen zu müssen, damit er sich weiter berappeln konnte.
Ich kam auf die Idee, direkt in die starren Augen des Toten zu spucken, denn Augen sind empfindlich. Aber ich war nie allzu treffsicher gewesen und musste daher nahe an meinen Gegner heran. Diesmal traf ich ihn immerhin im Gesicht und sorgte für ein weiteres Loch. Ich bin ja ein toller Scharfschütze!, dachte ich unfroh und spuckte erneut. Endlich konnte ich zufrieden sein: Das dritte Loch bildete sich genau dort, wo eben noch Kibas rechtes Auge gewesen war.
Er ging schnell zum Fenster.
•»Bist du etwa schon tot?««, fragte er so interessiert, als wären Informationen über meinen Gesundheitszustand für ihn das Wichtigste. »Hier dürfen Lebende nicht mit Toten streiten - also bist du tot. Und warum bist du auf seiner Seite?«
»Ich habe die Aufgabe, ihn zu schützen«, sagte ich fröhlich.
Da bekam ich, was ich verdient hatte: Die rechte Hand von Kiba Azach landete auf meiner Brust. Ich Dummkopf, dachte ich noch, warum bin ich ihm bloß so nahe gekommen?
Dann wurde ich ganz ruhig, mir war sehr kalt, ich wollte mit niemandem mehr streiten und hatte das Gefühl, ich sollte mich dringend hinlegen und mir einige Gedanken machen. Pfui Teufel - Kibas rechte Hand funktionierte wie eine Art Narkose. Darüber wurde ich sauer, fuhr ihn aber nicht an, sondern spuckte ihm erneut ins entstellte Gesicht und rief: »Schürf, lass ihn zwischen deinen Fingern verschwinden - aber schnell! So, wie ich's mit dem Handschuh getan hab! Na los!« Bei diesen Worten warf ich mich zu Boden, damit Lonely-Lokley nicht aus Versehen auch mich in seiner Hand versteckte.
Ich hoffte nur, dass Schürf schon imstande war, etwas zu tun, oder dass er eine bessere Idee hatte.
Dann stellte ich erleichtert fest, dass Kiba Azach sich nicht mehr unter uns befand. Ich drehte mich um, und Lonely-Lokley zeigte mir schweigend die Linke. Daumen und Zeigefinger hielt er auffällig gekreuzt. Ich war beruhigt: Glück gehabt!
Rasch verließen wir das unangenehme Zimmer. Ich zitterte, und Sir Schürf schwieg. Er brauchte wohl noch etwas Zeit, um nach diesem Vorfall wieder zu sich zu kommen. Und ich hatte keine Lust, mich zu genau an das Ganze zu erinnern.
Wie herrlich war es, wieder auf der Straße zu sein! Es wehte ein kühler Wind, das Licht war angenehm, und wir waren noch am Leben. Ich drehte mich um und staunte: »Sieh mal, Schürf - das Haus ist weg!«
Lonely-Lokley zuckte gleichmütig die Achseln. Und wenn schon!, schien ihm ins Gesicht geschrieben. Auch ich merkte, dass mich das Verschwinden des Gebäudes eigentlich nicht interessierte. Wir gingen weiter. Ich konnte mein Zittern allerdings nicht mehr beherrschen, und mir klapperten die Zähne.
»Versuch es mal mit meinen Atemübungen«, kommentierte Schürf unerwartet. »Mir würden sie in so einem Fall sicher helfen.«