Wir hoffen, daß Ihr uns diese Güte gewährt, und schwören zum Dank dafür, Euch und Euren Nachfahren bis ins siebente Glied zu dienen! Doch erwarten auch wir, daß Ihr schwört, für immer Wort zu halten. Und zwar mit dem Großen Riesenschwur.
Voller Achtung verbleiben
Kastao, Ältester der Tau
Antreno, Ältester der Reker
Arkado, Schloßjäger.
»Das wäre ja noch schöner!« rief die Riesin, nachdem sie die über alle Maßen ehrerbietige Botschaft zur Kenntnis genommen hatte. »Ihr wißt ja gar nicht, was ihr von mir verlangt. Wie kann ich mir denn gewiß sein, daß ihr die Mühlräder dreht, wenn ich euch nicht bestrafe! Die aber müssen sich bewegen, sonst hat meine Herrschaft keinen Bestand.«
Gleich darauf begann sie giftig und höhnisch zu lachen. Den Großen Riesenschwur verlangen diese eingebildeten Taureker! Na ja, immerhin hab ich es geschafft, sie so zu zähmen, daß sie vor mir zittern. Sie haben es nicht einmal gewagt, mir ihr Anliegen persönlich vorzutragen. Sie wissen, wie schrecklich ich in meinem Zorn bin und daß ich sie auf der Stelle zu Staub zermahlen hätte.
Karena nahm erneut auf ihrem Teppich Platz und befahl ihm, sie noch einmal zur Steinmühle zu bringen.
Unterdessen hatten sich Kastao, Antreno und Arkado in aller Frühe in der Steinmühlensiedlung zusammengefunden, von wo aus sie das Schloß beobachteten. Sie sahen den Fliegenden Teppich vorbeisausen, auf dem drohend die Hexe stand: im Nachthemd, mit wirren, vom Wind gezausten Haaren und einer schauerlichen Grimasse, die nichts Gutes verhieß.
Kurze Zeit später bemerkten sie den Teppich abermals über ihrer Siedlung, nur daß Karena inzwischen recht und schlecht angezogen und halbwegs gekämmt war.
»Was sie wohl vorhat?« murmelte Kastao, der um die Sicherheit seines Dorfes fürchtete.
Der Teppich ging neben der Steinmühle nieder. Eine Zeitlang war von dort kein einziger Laut zu hören. Auch von der Riesin selbst konnten sie nichts entdecken.
Plötzlich jedoch war die Luft vom Gedröhn, vom Kreischen und Quietschen der Mahlsteine und Mühlräder erfüllt. Was hatte das zu bedeuten?
»Sieht aus, als wollte uns Karena die Arbeit abnehmen«, sagte Kastao spöttisch. Dann wurde er aber wieder ernst und fuhr, an Arkado gewandt, fort: »Wir sollten herauszufinden versuchen, was diese Hexe im Schilde führt.«
Arkado ließ sich nicht lange bitten, sondern brach umgehend zur Steinmühle auf. Als Jäger verstand er es ausgezeichnet, sich lautlos zu bewegen.
Eine Stunde später tauchte er wie ein Gespenst hinter Kastao und Antreno auf. Er berichtete, daß Karena in der Tat wie besessen und ganz allein große Steinbrocken zu Staub zermahlen, diesen in Säcke füllen und damit den Fliegenden Teppich beladen würde. Die Arbeit ginge ihr so flott von der Hand, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan.
Antreno, der Stammesälteste der Reker, überlegte.
»Ich weiß zwar nicht, was sie vorhat«, ließ er sich nach einer Weile vernehmen, »doch eins ist wohl klar: die Sache schlägt uns nicht zum Guten aus. Ich fürchte, uns Zwergen droht Gefahr.«
Karena schuftete den ganzen Tag. Höchstens daß sie einmal auf ihre mißratene Tochter schimpfte, die sich, statt ihr zu helfen, irgendwo in der Ferne herumtrieb. Viele Male flog der Teppich über die Siedlung hinweg in Richtung Schloß, und er war so schwer beladen, daß er fast an den Dächern der Häuser hängenblieb.
Allmählich wurden die Taureker von ernster Sorge ergriffen. Sie konnten sich einfach nicht erklären, wofür Karena diese Unmengen gelben Staubs benötigte.
Die Hexe selbst aber, erschöpft von der schweren, ungewohnten Arbeit, kehrte erst spät in der Nacht nach Hause zurück. Dort ließ sie sich, angezogen und schmutzig wie sie war, ins Bett fallen. Sie sank in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere und hustete heftig von all dem Staub, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte.
Kaum daß es dämmerte, erhob sie sich schon wieder, und wie sie so dastand, erinnerte sie an eines der gelben Ungeheuer, die morgens aus der Staubschlucht heraufkrochen.
Dann setzte sie sich erneut auf den Fliegenden Teppich und steuerte den See an. Zusammen mit ihrem Gefährt ließ sie sich ins Wasser plumpsen. Das kalte Naß erfrischte die Riesin und verlieh ihr neue Kräfte. Sie planschte im See herum, bis sie blau anlief. Als sie schließlich gewaschen war und auch den Teppich vom dicksten Staub befreit hatte, rief sie, bibbernd vor Kälte, doch triumphierend:
»Ihr seid wirklich nicht zu beneiden, meine Täubchen!«
Vor Freude über ihren hinterhältigen Plan, mit dem sie sich an den Zwergen rächen wollte, brach sie in ein lautes Hohngelächter aus.
Der Teppich schüttelte sich wie ein zottiger Hund, der aus dem Wasser kommt, und brachte seine Herrin in Windeseile zurück zum Schloß. Hier zog sich Karena trockene Kleider an, dann schritt sie zur entscheidenden Tat.
Wieder lud sie – zum wievielten Male schon – die randvoll gefüllten Säcke auf den Teppich. Sie hatte ein ganzes Lager von diesem Dreckszeug zusammengetragen und im riesigen Speisesaal gehortet. Der Staub war ihr mehr wert als jeder Goldschatz.
»Los geht’s!« befahl sie und lenkte den Teppich nun zur Siedlung an der Wassermühle.
Sie war ganz bewußt in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, damit die Taureker nicht vorzeitig von ihrem Vorhaben Wind bekamen und davonliefen. Die frühen Morgenstunden, in denen die Leute am tiefsten schliefen, waren ihr gerade recht.
Karena zog in Gedanken einen riesigen Kreis, der von der Wassermühle über die Geröllsteppe bis hin zur Siedlung der Tau neben der Steinmühle reichte, und machte sich ans Werk.
Sie band einen der Säcke auf und begann den gelben Staub auszuschütten, wobei sie den Teppich anwies, möglichst tief zu fliegen. In dicken Schwaden senkte sich der erstickende Schmutz auf die Erde.
Ringsum herrschte völlige Stille, auch der Teppich glitt lautlos dahin, und so ahnten die Zwerge, die friedlich in ihren Betten schliefen, nichts von dem Schlag, zu dem die Riesin ausgeholt hatte.
Bald schon bildete der Staub über dem Gebiet, das die Hexe auserkoren hatte, eine geschlossene Decke, schnitt als undurchdringlicher gelber Vorhang das Land Taurekien von der übrigen Welt ab. Verbunden mit Wasser, Nebel und dem Morgentau, würde der Schmutz zu einer dichten Masse aufquellen, die sämtliche Senken und Spalten füllte. Nicht mal eine Maus könnte dann mehr hindurchschlüpfen.
Nachdem Karena ihr verderbenbringendes Gut abgeworfen hatte, kehrte sie ins Schloß zurück, um Nachschub zu holen. Sie schaffte es, den Kreis ein zweites Mal abzufliegen und damit die Siedlungen der Taureker vollständig einzuhüllen.
Nun hatte sie ihr Ziel erreicht: der gelbe Dunst würde den Zwergen die Luft nehmen und sie wie eine Schlange im Würgegriff erdrücken.
Die Hexe ließ sich vom Teppich zum höchsten Turm ihres Schlosses bringen, wo sich eine Aussichtsplattform befand. Von dort aus betrachtete sie zufrieden ihr Werk und rieb sich vor Vergnügen die Hände. Zwar fiel ihr noch ihre Tochter ein, die irgendwo da draußen steckte, aber die war widerstandsfähig und würde sich schon durchschlagen. Auch ihr würde die Sache eine Lehre sein. So richtig treffen dagegen würde sie diese aufsässigen Wichte.
»So wahr ich Karena heiße«, murmelte sie kichernd, »ein paar Tage noch, dann werden die Zwerge auf Knien angerutscht kommen, damit ich sie von dem Gelben Nebel befreie!«