GEFANGEN IM GELBEN NEBEL
Der Jäger Arkado war der erste, der am Morgen das Haus verließ und bemerkte, daß etwas nicht stimmte. Die Sonne, die um diese Zeit schon hinter den Felsvorsprüngen hätte hervorschauen und ihre wärmenden Strahlen zur Erde schicken müssen, sah aus wie eine große schmutzige Apfelsine. Sie leuchtete kaum, und von wärmenden Strahlen konnte man gleich gar nicht reden.
Arkado schaute in die Runde und stellte fest, daß überall, so weit er blicken konnte, ein gelber Schleier über der Erde wallte. Er reichte bis in die Ebene hinunter, stand über der Wassermühle und erhob sich auch hier, an der Steinmühle! Selbst über der Staubschlucht hing er, vermengte sich mit den Nebelschwaden dort. Man hätte meinen können, die Schlucht wollte ihre Fühler ausstrecken, um die ganze Umgebung in sich einzusaugen.
Der Jäger rannte entsetzt ins Haus zurück, er traf auf der Schwelle Kastao und Antreno, die gleichfalls keine Ruhe mehr hatten. Wortlos wies er mit einer weiten Handbewegung nach draußen, damit die Ältesten sich selbst ein Bild von dem Geschehen machten.
»Das ist es also, was Karena vorhatte!« sagte Antreno nach einer Weile betroffen. »Seht nur, meine Siedlung an der Wassermühle ist schon gänzlich von diesem Nebel überzogen. Ich muß sofort zu meinen Brüdern und Schwestern!«
Er eilte, so schnell er konnte, davon. Die beiden anderen hielten ihn nicht ab – ein Stammesältester hatte im Augenblick der Gefahr bei seinem Volk zu sein.
»Was meinst du«, wandte sich der Jäger an Kastao, »ist dieser Dunst sehr gefährlich?«
»Ich glaube schon«, antwortete Kastao, und da er merkte, daß der Jäger, der ja nie bei den Mühlen gearbeitet hatte, nur wenig über diese Erscheinung wußte, erklärte er:
»Gefährlich ist der Gelbe Nebel vor allem, weil er ein Gemisch darstellt. Der Steinstaub an sich ist leicht und wird normalerweise vom Wind weggeweht. Vermengt mit Wasser, kann er jedoch endlos lange in der Luft hängen.«
Er räusperte sich und fuhr fort:
»Der Aufenthalt in diesem Dunst ist äußerst schädlich für die Gesundheit. Er kann, wie du selber weißt, schon bei kurzer Dauer krank machen. Immer wieder finden sich ja wagemutige Männer, die in die Schlucht hinabsteigen, um sie zu erkunden, doch noch nie hat einer den Grund erreicht. Wenn sie nicht schnell zurückkommen, ersticken sie. Auch die armen Kerle, die zur Strafe in den Abgrund geworfen werden, kommen auf diese Weise um, wenn sie sich nicht gleich das Genick brechen. Viele Taureker, die in unmittelbarer Nähe der Schlucht arbeiten, leiden unter ständigem Husten, ihre Augen tränen und büßen die Sehkraft ein.«
»Und du glaubst, Karena will uns für unseren Ungehorsam auf diese furchtbare Art bestrafen?« flüsterte Arkado erschrocken.
Kastao verzichtete auf eine Antwort, denn zusehends näherte sich der Gelbe Nebel bereits der Steinmühlensiedlung.
»Wenn wir am Leben bleiben wollen, dürfen wir keine Minute mehr verlieren!« rief er. »Wir müssen umgehend fliehen!«
»Aber wohin?« fragte der Jäger, mehr sich selbst. »Dieser gelbe Dunst ist überall, wohin man schaut!« Er überlegte kurz, dann fuhr er entschlossen fort: »Hör zu, Kastao, geh du zu deinen Leuten und warne sie vor der drohenden Gefahr. Ich laufe inzwischen in die Steppe und prüfe, ob es einen Platz gibt, der uns Sicherheit bietet. Ich kenne dort Weg und Steg, jeden noch so engen Felsspalt, vielleicht finden wir ein Versteck.«
»Einverstanden. Wir verschanzen uns in den Häusern, bis du uns Bescheid gibst, dichten sämtliche Tür- und Fensterritzen ab. Wenn wir eine Öffnung für die Luft lassen und sie mit feuchten Tüchern verhängen, werden wir es schon eine Weile durchstehen. Falls übrigens dich unterwegs der Gelbe Nebel einholt, solltest du dir gleichfalls ein nasses Tuch vors Gesicht binden, Arkado. Es hilft ganz gut, ich hab es selber ausprobiert.«
Dem Jäger kam ein Gedanke.
»Wie will eigentlich Karena selbst überleben?« fragte er. »Auch sie ist ja nicht unsterblich, muß atmen, essen…«
»Die Riesen sind leider viel kräftiger als wir, außerdem würden sie sich in die obersten Stockwerke ihres Schlosses flüchten oder auf den Turm«, erwiderte Kastao zornig. »Der Nebel breitet sich hauptsächlich am Boden aus und wird das Schloß gerade mal bis zur Hälfte einhüllen. Bleibt nur die Hoffnung, daß die alte Hexe verhungert. Wir haben so ziemlich alle Lebensmittel versteckt.«
»Und wie sieht’s mit euren eigenen Vorräten aus? Ihr müßt ja gleichfalls essen und trinken. Und ihr seid eine Menge Leute.«
»Stimmt, wir können uns nur an das halten, was sicher in den Kellern aufbewahrt ist und nicht durch diesen Giftschlamm verunreinigt wird. Immerhin können wir zwei Wochen durchhalten, wenn wir sparsam sind.«
Arkado und Kastao umarmten sich zum Abschied, und im nächsten Augenblick war der Jäger wie vom Erdboden verschluckt. Der Stammesälteste aber eilte zu seinen Leuten, um den Schutz zu organisieren.
Er hatte noch Zeit, sämtliche Einwohner auf dem Dorfplatz zu versammeln, um ihnen die schwierige Lage zu erläutern, in der sie sich befanden. Als er gerade zu den Maßnahmen kam, die ergriffen werden sollten, traf überraschend Antreno wieder bei ihnen ein. Es stellte sich heraus, daß es in der Wassersiedlung nicht gelingen würde, dem Gelben Nebel den Zugang zu den Häusern zu versperren. Die Türen und Fenster schlossen nicht dicht genug, es blieb viel zu wenig Zeit, alle Ritzen und Löcher zu verstopfen. Der schmutzige Dunst drang überall ein – schon litten einige Zwerge unter heftigem Augentränen und starkem Husten. Deshalb hatte sich Antreno einen anderen Ausweg überlegt:
»Wir müssen in die Wassermühle flüchten und das Mühlrad erneut in Bewegung setzen!« rief er seinen Leuten zu. »Das ist die einzige Rettung!«
»Was denn, wir sollen wieder anfangen zu arbeiten?!« empörten sich die Reker. »Wozu haben wir Karena dann überhaupt den Kampf angesagt? Sie wird sofort denken, wir hätten aufgegeben und sie wäre die Siegerin! Eine solche Schmach können wir nicht hinnehmen, sie würde in aller Ewigkeit auf unserem Volk lasten!«
Antreno war nicht erstaunt über diesen Protest, er erwiderte ruhig:
»Es geht nicht darum, nachzugeben, sondern unser Leben zu schützen und dann den Widerstand weiterzuführen. Mit Hilfe des Wassers können wir uns den Nebel vom Leib halten. Wir leiten das Wasser übers Dach der Mühle, so daß wir hinter einem fließenden Vorhang sitzen, in einer Art künstlichen Glocke. Allerdings müssen wir das Rad rund um die Uhr in schneller Bewegung halten, damit wir einen starken Wasserdruck erzeugen. Nur so können wir den Nebel abhalten.«
Der Älteste legte eine Pause ein. Als er sah, daß ihm die Leute aufmerksam zuhörten, fuhr er fort:
»Die Sache ist nicht leicht, hat aber einen zweiten Vorteil. Wir werden nicht jeder für sich, sondern alle beisammen sein. Gemeinsam werden wir uns an die Arbeit machen, statt angstvoll abzuwarten. Denn glaubt mir, meine Freunde, aus langjähriger Lebenserfahrung weiß ich, daß es nichts Qualvolleres gibt, als in Augenblicken der Gefahr müßig herumzusitzen und die Hände in den Schoß zu legen.«
Mit seiner entschlossenen Rede hatte Antreno die Zwerge überzeugt. Mehr noch, sie hielten es für richtig, auch die Bewohner der Steinsiedlung zu benachrichtigen und ihnen anzubieten, mit in die Wassermühle zu kommen. Ihre Häuser würden dem Gelben Nebel bestimmt ebensowenig standhalten.
Aus diesem Grund war Antreno zu Kastao und den Tau geeilt, legte ihnen in der gebotenen Kürze die Dinge dar. Nein, wenn sie die Wassermühle wieder in Betrieb nahmen, taten sie es bestimmt nicht aus Feigheit oder Verrat an ihrer gemeinsamen Sache. Es war vielmehr die einzige Möglichkeit, den Kampf fortzuführen und vielleicht sogar zu siegen.
Die Tau begriffen sofort, und bereits eine Stunde später setzte sich aus der Steinsiedlung ein langer Treck in Richtung Wassermühle in Marsch. Er bestand aus Fuhrwerken, voll beladen mit dem Hab und Gut der Zwerge und natürlich aus den Bewohnern der Dörfer selbst.