»Habt ihr mir das leckere Fleisch und die Wasserschläuche hingelegt?«
»Ich war es«, sagte Arkado stolz. »Es hat mich einige Arbeit gekostet, aber ich sah, daß es Euch nicht besonders gut ging und daß Ihr eine Stärkung gebrauchen konntet.«
»Das kann man wohl behaupten«, brummte Arachna und wunderte sich, es nur mit einem der Zwerge zu tun zu haben. Sie wußte ja nichts von dem Gelben Nebel und der Flucht der anderen Taureker in die Wassermühle.
Arkado, der begriff, daß die Riesin trotz ihres Schwurs noch immer unschlüssig war, wie sie sich verhalten sollte, erzählte ihr nun von den Geschehnissen der letzten Tage.
»Deshalb bin ich allein hier«, schloß er, »Karena aber soll wissen, daß wir Taureker ein stolzes Volk sind. Wir werden lieber sterben, als uns weiter so von ihr demütigen zu lassen.«
»Und was erwartet ihr von mir?«
»Ihr könntet uns in unserem Streit mit Karena helfen.«
»Du weißt nicht, was du von mir verlangst«, erwiderte Arachna, die keine Lust hatte, sich in eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter einzulassen. »Die Alte ist stärker als ich, und den Gelben Nebel, von dem du redest, kann ich auch nicht wegblasen.«
»Aber vielleicht könntet Ihr uns in eine Gegend bringen, wo wir in Frieden leben und wieder frei atmen können. Statt Karena würden wir allezeit Euch dienen.«
Die Riesin überlegte. War es nicht besser, sich trotz allem auf die Seite ihrer Mutter zu schlagen? Trotz des Großen Schwurs?
»Karena besitzt den Fliegenden Teppich und das Zauberbuch«, wandte sie ein.
»Irrtum. Das Zauberbuch haben wir!«
Diese fast beiläufig gegebene Antwort verblüffte Arachna so, daß ihr der Mund offenstand. Gleichzeitig trat ein gieriges Funkeln in ihre Augen. Schließlich wußte sie, was man mit diesem Buch alles anstellen konnte, sie hatte ihre Mutter mehr als einmal beim Zaubern belauscht. Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben konnte man damit auslösen, aber auch Reichtümer in seinen Besitz bringen. Selbst der Fliegende Teppich mußte den Befehlen gehorchen, die im Buch standen.
»Ihr habt wirklich das Zauberbuch an euch gebracht?« fragte die Riesin.
»Gewiß, es ging nicht anders.«
»Dann bring mich zu dem Ort, wo ihr es versteckt habt.«
»Ihr denkt doch an Euren Schwur?« sagte Arkado zögernd.
»Aber ja. Wenn ich das Buch habe, bin ich stärker als Karena und kann euch helfen.«
Der Jäger mußte sich auf ihre Worte verlassen, er vertraute auch darauf, daß Arachna gern selbst die Herrscherin wäre. Und außerdem – er hatte keine Wahl.
Sie zogen los. Der Jäger band erneut ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase, dann hob Arachna ihn hoch. Auf ihrer Handfläche sitzend, die Arme um einen ihrer Finger geklammert, konnte er einigermaßen atmen und sie gut dirigieren. Die Riesin selbst dagegen verzichtete auf ein Tuch, sie würde schon nicht gleich an dem Staub ersticken.
DIE TAUREKER WERDEN GERETTET
Für einen Außenstehenden wäre das ein lustiger Anblick gewesen. Arachna bewegte sich mit Riesenschritten vorwärts, bemüht, nicht zu stolpern und Arkados Kommandos zu befolgen. Von Zeit zu Zeit schaute sie zu dem Jäger hinunter, der sich einerseits festhalten, andererseits auf den Weg achten mußte. Vor lauter Anspannung und von dem vielen Staub tränten beiden die Augen.
Nach einer Stunde hatten sie den Höhleneingang erreicht, der so meisterlich getarnt war, daß weder Karena noch Arachna ihn je entdeckt hätten. Doch selbst wenn sie auf ihn gestoßen wären – es hätte ihnen nichts genutzt. Zum Höhleninneren führte nämlich ein langer Gang, länger als der Arm der Riesen, wenn man ihn bis zur Schulter hineinsteckte. Dahinter erst wurde es weiter, erstreckte sich ein Gewölbe, geräumig wie eines der Zimmer in Karenas Schloß.
Arkado bat die Riesin, ihn vor der Höhle abzusetzen. Arachna ging in die Hocke und legte die Hand auf den Boden, damit der Jäger bequem absteigen konnte. Gleich darauf war er im Gesträuch verschwunden und tauchte in die Höhle ein.
Da die Zwerge zu Beginn ihres Aufstands noch nicht wußten, wie es mit dem Zauberbuch weitergehen würde, hatten sie Pferde und Fuhrwerk im Gewölbe zurückgelassen. Arkado hatte den Tieren Wasser hingestellt und sie mit Heu versorgt, jetzt begrüßten sie ihn freudig wiehernd. Der Futtervorrat war ziemlich zusammengeschmolzen, doch hätten sie es noch eine Weile ausgehalten.
Der Jäger tätschelte liebevoll ihre Zottelmähnen und schüttete neues Wasser in ihre Holztröge. Dann überzeugte er sich, daß Karenas Buch noch unversehrt in der Ecke lag.
Er spannte an, beförderte das Werk mit großer Mühe auf den Wagen, setzte sich obenauf und lenkte das Gefährt aus der Höhle.
Kurze Zeit später war er bei Arachna angelangt, die vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen trat. Als sie den Jäger erblickte, wollte sie das Buch sofort aufschlagen, um ihre Künste zu erproben, doch eine Art Ehrfurcht hielt sie zunächst davon ab. Außerdem war hier, im Nebel, nicht der richtige Platz zum Lesen.
Sie marschierten erneut los. Arachna packte das Zauberbuch mit der freien Hand und preßte es so fest an die Brust, als fürchtete sie, irgendwer könnte es ihr wieder wegnehmen. Arkado hatte zuvor die Pferde ausgespannt, damit sie in dem Nebel nicht noch das Fuhrwerk ziehen mußten. Schnaubend folgten die Tiere der Riesin.
Endlich ließen sie den Dunst hinter sich, und nun hielt es Arachna nicht länger aus. Sie setzte sich gleich auf die Erde und begann in dem Schatz zu blättern, der ihr so unverhofft zugefallen war.
Arkado hatte etwas entfernt auf einem Stein Platz genommen und ließ die Riesin nicht aus den Augen. Er war sich nicht schlüssig – hatte er es wirklich richtig gemacht? Nicht nur sein Schicksal, auch das der anderen Zwerge hing jetzt von dieser Frau ab. Wenn sie sich trotz ihrer Zusicherungen gegen die Taureker wandte, waren sie endgültig verloren.
Und wie war es seinen Stammesgenossen dort im Gelben Nebel überhaupt ergangen? Immerhin hatte er schon einige Tage nichts mehr von ihnen gehört. Hoffentlich war die Hexe inzwischen nicht über sie hergefallen! Karena war alles zuzutrauen. Sollte sie herausbekommen, wo das Zauberbuch war, scheute sie bestimmt vor keiner Grausamkeit zurück.
Und in der Tat, Arkados Befürchtungen waren nicht aus der Luft gegriffen. Um ein Haar wäre es den Zwergen in der Mühle tatsächlich übel ergangen!
Karena hatte tagelang vergeblich darauf gewartet, daß ihre aufsässigen Diener sich wieder demütig unterwarfen, und sie hatte sich in Gedanken bereits die härtesten Strafen für sie zurechtgelegt. Doch als das Erhoffte nicht eintrat, beschloß sie, selber etwas zu unternehmen. Der Lärm, der ständig von der Staubschlucht herüberdrang, konnte nur von den Mühlen kommen. Aber warum waren sie wieder in Gang gesetzt worden? Von ihrem Turm aus versuchte Karena den Nebel mit Blicken zu durchbohren. Anfangs nahm sie ja noch an, die Zwerge hätten sich besonnen und wollten mit fleißiger Arbeit ihre Herrin versöhnlich stimmen. Doch als die Tage verstrichen, ohne daß sich einer ihrer Diener im Schloß blicken ließ, wurde sie unruhig. Bis dann ihr Zorn und ihre Neugier siegten und sie sich auf den Weg machte, um selbst nachzusehen.
»Ich will wissen, was diese Taugenichtse treiben«, knurrte Karena mißmutig. »Wehe, wenn sie mir unter die Finger kommen! Ich werde sie durchschütteln, daß ihnen Hören und Sehen vergeht.«
Sie schwang sich auf ihren Teppich und befahl ihm, sie zur Schlucht zu bringen, zu den Mühlen. Um die Taureker aber nicht zu warnen, beschrieb sie einen großen Bogen, näherte sich ihnen von der Schlucht her, von wo sie bestimmt nicht erwartet wurde!
Als sie über die Steppe flog, entdeckte sie in einiger Entfernung, dort wo der Nebel mit dem Himmel verschmolz, eine dünne Rauchfahne.