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»Ah, geflogen bist du«, sagte Viola spitz. »Deshalb also mußte dich mein Vater suchen, wie einen jungen Hund, der sich verirrt hat.«

Man sah No an, daß ihm dieser Spott mißfiel. Es war nicht das erste Mal, daß Viola sich über ihn lustig machte. Wenn sie jetzt auf Atlantis gewesen wären, hätte er sie bestimmt dafür bestraft. Als Sohn des ehemaligen Herrschers Wanaka hätte er sie dazu verdonnert, ihm mit einem Palmwedel die lästigen Fliegen vom Leib zu halten.

»Ja, ich bin geflogen«, erwiderte er etwas von oben herab. »Ich brauchte nur ein wenig mit den Armen zu rudern, und schon schwirrte ich ab.«

»Und dein Brüderchen hat sich inzwischen die Hacken abgelaufen, um dich wiederzufinden!«

No wurde verlegen.

»Ich versteh das ja auch nicht«, murmelte er. »Ich hatte Mo bloß für einen Moment an dem Stück Säule zurückgelassen, das aus unserer Heimat stammte. Wer konnte denn ahnen, daß so was passiert.«

»Für einen Moment, ist gut«, murrte das Mädchen. »Du warst so lange weg, daß Papa unruhig wurde und sich auf die Suche nach dir machte. Wo hat er dich überhaupt aufgetrieben, wenn du so schnell abgeschwirrt bist?«

Nun schaltete sich Ol ein.

»Mal schön langsam, das ist eine schwierige Geschichte«, sagte er. »No war nämlich viel länger unterwegs, als er glaubte, länger auch, als du annimmst, Viola. Als ich von seinem Bruder Mo erfuhr, daß er im Elming verschwunden sei, kam mir das gleich seltsam vor. Schließlich hatte er sich dort früher endlos aufgehalten, kannte jeden Stein, jeden Strauch. Nein, er konnte sich nicht so einfach verirren, das war nicht möglich, vielmehr mußte etwas Ungewöhnliches passiert sein. Wahrscheinlich war der Junge in den Tunnel geraten! Das aber konnte wiederum nur geschehen, wenn der Schacht defekt war.«

Inzwischen war Vi aus der Küche ins Zimmer gekommen. Sie hatte gespannt zugehört und fragte besorgt:

»Was heißt defekt? Saust man dort jetzt mir nichts, dir nichts in der Gegend herum? Kann man nicht mehr über sich selbst bestimmen?«

»So ungefähr«, erwiderte Ol. »Es ist eine schlimme Sache, und ich brauchte eine Weile, um dahinterzukommen. Der ganze Tunnel ist außer Kontrolle geraten, hat sich gewissermaßen selbständig gemacht. Bisher gelangten wir durch ihn und andere Schächte ja immer an das gewünschte Ziel und auch wieder zurück. Plötzlich aber geht das nicht mehr.«

»Und was passiert jetzt im Tunnel?« fragte Viola aufgeregt dazwischen.

»Ja, was…« Ol machte eine Pause, und die Spannung der Kinder wuchs. »Man wird… wie soll ich sagen… in die Zeit entführt. In die Zukunft oder in die Vergangenheit.«

Einen Augenblick lang schwiegen alle überrascht. Dann sagte Viola begeistert:

»Aber das ist ja toll, richtig abenteuerlich!«

Mo, der andere Junge, der bisher noch keinen Ton von sich gegeben hatte, murmelte:

»Na, ich weiß ja nicht. Entführt werden heißt doch, daß man nicht mehr so einfach zum Ausgangsort zurückkommt.«

»Genau das ist das Problem«, bestätigte Ol. »No war zu einem unbekannten Ziel aufgebrochen und hätte wahrscheinlich nie mehr zu uns zurückgefunden.«

»Und was hast du nun gemacht?« wollte Vi wissen.

»Ich bin, so schnell ich konnte, ins Synchronautikzentrum gerannt, wo die Flüge zur Erde koordiniert werden«, erwiderte Ol. »Ich habe Or, den Direktor, gebeten, niemanden mehr starten zu lassen, hab ihn auf die verheerenden Folgen aufmerksam gemacht, die für jeden Tunnelfahrer entstehen könnten. Und dann hab ich ihn überredet, mir diese Dinger da zu überlassen.«

Ol wies auf zwei Pakete, die No und er mitgebracht hatten. Viola hatte sie schon für einen geheimnisvollen Fund gehalten, für einen Schatz aus dem Elming oder so etwas. Sie war nur noch nicht dazu gekommen, sie zu überprüfen oder wenigstens danach zu fragen.

»Was ist das?« erkundigte sie sich hastig.

»Das sind die Kristallskaphander, über die ich vorhin mit No und Mo gesprochen habe. Or hat sie mir überlassen, weil ich am besten damit umgehen kann, schließlich hab ich sie seinerzeit als erster ausprobiert. Sie besitzen zwar nur eine Reichweite von hundert Jahren, aber in diesem Fall waren sie das einzige Mittel, No wieder einzufangen. Ich hab ihn erwischt, bevor er auf Nimmerwiedersehen in der Zukunft verschwand. Gemeinsam sind wir dann zurückgeflogen.«

»Ich habe mich dabei nicht gerade geschickt angestellt«, sagte No verlegen.

»Für das erste Mal in so einem Skaphander warst du ganz gut«, tröstete ihn Ol.

Vi dachte daran, daß ihr Mann in dem defekten Tunnel hätte verunglücken, mit No für immer in der Zukunft verlorengehen können, und ihr wurde ganz übel.

»Was in drei Stunden alles passieren kann!« sagte sie. »Das war doch sehr gefährlich. Wenn ich gewußt hätte, was ihr treibt, hätte ich nicht so ruhig zu Hause gehockt.«

Ol erwiderte:

»Nun ja, gefährlich war es vielleicht. Aber drei Stunden, das scheint uns nur hier auf der Irena so. No war mir bereits einen Tag voraus. In dem Tunnel vergeht die Zeit nämlich viel schneller.«

Über dieses Problem sprachen sie dann noch ausführlich, und als Viola später im Bett lag, konnte sie eine ganze Weile nicht einschlafen. Die Kristallskaphander gingen ihr im Kopf herum. Bestimmt würden ihr Vater und No die Fluganzüge erneut ausprobieren, um damit den defekten Tunnel zu erforschen. Wie konnte sie es nur anstellen, daß man sie mitnahm? Erst gegen Mitternacht schlief das Mädchen endlich ein. Sie war zu keiner Lösung gekommen. Aber auch Ol war noch lange wach und dachte über die Ereignisse des Tages nach. Er fragte sich, weshalb der Tunnel außer Kontrolle geraten war und was sich daraus für Folgen ergaben.

VIOLA UND MO MACHEN SICH DAVON

Am nächsten Morgen saß Ol nicht wie üblich als erster. am Frühstückstisch, sondern mußte mehrmals gerufen werden.

Zum Frühstück gab es Buletten, und Ol, der die knusprigen braunen Klopse gern aß, riß sich für eine Weile von seinen Überlegungen los. Ganz gelang ihm das freilich nicht. Gefesselt von seinen Überlegungen, führte er Selbstgespräche und gestikulierte wild mit den Händen.

»Der eine Pol ist die Erde, der andere die Irena«, sagte er laut. »No ist in die Zukunft geflogen, also führt der Tunnel von hier aus dorthin. Von der Erde aus aber geht es in die Vergangenheit. Genauso muß es sein. Nur im Elmenland, das dazwischen liegt und wo sich die unterschiedlichen Kräfte treffen, bleibt alles beim alten, dort ist die Zeit gleich null.«

Während Ol nachdachte und Schlüsse zu ziehen versuchte, gingen seiner Tochter Viola viel praktischere Dinge durch den Sinn. Auch sie beschäftigte sich innerlich mit dem Tunnel und den sonderbaren Vorgängen dort. Dabei schien ihr ein Ausflug in die Zukunft allerdings eher verlockend als gefährlich.

Das Risiko wird schon nicht so groß sein, sagte sie sich, dieser No hätte ja nur umkehren müssen, wahrscheinlich hatte er jede Orientierung verloren. Wenn er sich ein bißchen angestrengt hätte, wäre er auch wieder nach Hause gekommen. Das ist sogar mir gelungen, als ich damals im Elmenland war. Außerdem passe ich besser auf als er. Sobald ich merke, daß es schwierig wird, breche ich das Experiment ab.

Zu ihrer Überraschung fand Viola einen Verbündeten in Mo, der seinem Bruder in nichts nachstehen wollte. Mal an der Zukunft schnuppern könnte man ja, dachte er. Und da er erriet, was das Mädchen vorhatte, brauchten sie nicht viel Worte, um sich zu verständigen.

Während Ol noch in seinem Zimmer war und verschiedene Berechnungen über die umgewandelte Energie anstellte, während Vi in der Küche hantierte und No sich mit dem Roboter beschäftigte, machten sich die beiden heimlich aus dem Staub. Sie benutzten nicht die Straße, sondern schlichen durch den Garten und kletterten über den Zaun. Danach robbten sie eine Weile über freies Feld und rannten erst los, als sie merkten, daß niemand ihnen auf den Fersen war. Jetzt trennte nur noch der kleine Bach sie vom Elming. Ohne lange zu überlegen, sprangen sie hinein und wateten ans andere Ufer.