Unterwegs hatten sie sich Gedanken gemacht, wie Viola den unsichtbaren Schutzschild überwinden könnte, der den Eingang zum Schacht abschirmte. Für Mo war das kein Problem, er stammte ja von der Atlantis. Vielleicht, so sagte er sich, klappte es für das Mädchen, wenn er sie
an der Hand nahm? Doch nichts da – während er passieren konnte, prallte sie zurück wie von einer Gummiwand.
Mo kam zu Viola zurück, und sie versuchten es erneut. Sie dachten sich die unmöglichsten Varianten aus: auf allen Vieren, mit dem Hintern zuerst, mit einem gewaltigen Sprung oder eng aneinandergepreßt. Doch alles half nichts, und so setzten sie sich enttäuscht ins Gras. Wahrscheinlich würde das Mädchen unverrichteter Dinge umkehren müssen.
So schnell aber gab Viola nicht auf.
»Wenn der Tunnel einen Defekt hat«, sagte sie, »warum sollte dann der Schutzschild noch voll und ganz intakt sein. Wir müssen nach einem Loch suchen, durch das ich schlüpfen kann. Los, gehn wir langsam um den Elming herum.«
Mit dieser Hoffnung machten sie sich ans Werk, und Viola tastete immer wieder die unsichtbare Wand nach einer Lücke ab. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie tatsächlich einen Spalt fand. Sie hatte es doch gewußt!
»Das schaffe ich«, rief das Mädchen und quetschte sich durch die Lücke. Als sie halb im Innern des Elmings war, gab der Schutzschild unvermutet nach, und sie fiel der Länge nach hin. Aber die Kratzer an Knie und Ellbogen, die sie sich dabei zuzog, machten ihr nicht das geringste aus – Hauptsache, sie war drin!
Im Elming konnten die beiden zunächst nichts Besonderes entdecken. Viola, die eine Weile nicht hier gewesen war, schaute sich neugierig um und vergaß für den Augenblick die Gefahr, in die Zukunft verschlagen zu werden. Mo dachte zwar daran, glaubte aber nicht, daß etwas passieren könnte, solange sie der Stelle fernblieben, an der No gestern verschwunden war. Da er sich hier gut auskannte, zeigte er dem Mädchen seine Lieblingsplätze und Verstecke.
Inzwischen hatte man zu Hause ihr Verschwinden entdeckt und war in heller Aufregung. Ol und Vi kannten die Abenteuerlust ihrer Tochter zur Genüge. No wiederum konnte sich denken, daß sein Bruder nicht hinter ihm zurückstehen, sondern ihn möglichst noch übertrumpfen wollte.
»Sie sind bestimmt zum Tunnel gelaufen«, sagte No, »meinem Brüderchen wäre das zuzutrauen.«
»Viola auch«, erwiderte Vi, »manchmal ist sie mehr als unvernünftig. Zum Glück ist das Gebiet um die Tunnelöffnung durch den Schutzschild abgesperrt. Unsere Tochter kann nicht durch, und ich hoffe, Mo ist Kavalier genug, sie nicht allein zurückzulassen.«
Ol hoffte das gleichfalls, machte sich aber trotzdem Sorgen. Und wenn nun auch die unsichtbare Wand außer Kontrolle geriet? Er hatte Vi dargelegt, welche Gefahren mit dem defekten Tunnelsystem verbunden waren, diese letzte Befürchtung jedoch für sich behalten. Während seine Frau und No noch diskutierten, verließ er ohne ein Wort das Haus, machte sich zum Elming auf. Er nahm den kürzesten Weg, doch am Sperrkreis angelangt, hielt er vergeblich nach den Kindern Ausschau.
Sie sind drin, Viola ist irgendwie reingekommen, dachte Ol bestürzt. Hoffentlich erwische ich sie noch!
Er trat an den Schutzschild heran und spürte deutlich die Risse, die sich hier und dort in der Wand zu bilden begannen. Schon bald fand er eine dünne Stelle, die ihm den Durchschlupf erlaubte.
Innen sah er sich verzweifelt erneut um. Ein Zentnergewicht fiel ihm vom Herzen, als er die beiden endlich entdeckte. Viola und Mo steuerten gerade das Bruchstück einer Säule an, das am Boden lag. Es war der Lieblingsstein der Atlanterjungen, denn er stammte von ihrer untergegangenen Insel.
Ol rannte hinter den Ausreißern her, und sie bekamen einen gehörigen Schreck, als sie ihn neben sich auftauchen sahen. Sie erschraken aber nicht nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatten, sondern auch, weil er völlig außer Atem war und sich beim Kriechen durch den Schutzschild die Sachen zerrissen hatte.
»Papa, wo kommst du denn her«, rief Viola, »bist du uns etwa gefolgt?«
»Und ob ich euch gefolgt bin! Was fällt euch ein, klammheimlich von zu Hause wegzulaufen und in den Elming einzudringen. Ihr habt doch gehört, was No gestern passiert ist.«
»Ach, ist ja alles gut gegangen, und wir sind viel vorsichtiger als er. Wir wollten…«
Doch was sie wollten, konnte das Mädchen nicht mehr darlegen. Mit einemmal war ihr das Wort abgeschnitten, und sie merkte, wie sie leicht wurde, gewissermaßen Flügel bekam.
Aber auch ihr Vater und Mo verspürten dieses Gefühl. Zu spät begriff Ol, daß sie in den Sog geraten waren wie gestern No, und daß sie in der Falle saßen. Ja, die drei waren genau an der Stelle, an der Mos Bruder einen Tag vorher verschwunden war, von der Anziehungskraft des Tunnels erfaßt worden, gegen die sie sich nicht wehren konnten.
Sie wurden in die Zukunft entführt, und keiner von ihnen wußte, wo sie landen würden.
DIE WÄNDE HABEN OHREN
Auch Vi und No hatten ihre Diskussion letzten Endes abgebrochen, ihnen war aufgefallen, daß Ol gleichfalls das Haus verlassen hatte.
»Er ist zum Elming«, sagte Vi, »wo sollte er sonst hin. Ich hab keine Ruhe!«
Sie ließ alles stehen und liegen und rannte zusammen mit No ihrem Mann hinterher. Sie kamen gerade noch zurecht, um von der unsichtbaren Wand aus das Verschwinden der drei beobachten zu können. Vi war verzweifelt, zumal es ihr nicht gelang, den Schutzschild zu durchbrechen. Sie befanden sich an einer Stelle, wo er noch keine Lücke hatte.
Nun hielt sie wenigstens No am Arm fest, denn sie wollte nicht, daß auch er sich noch davonmachte. Ol ist klug und bewandert in diesen Dingen, sagte sich Vi immer wieder, er wird bestimmt einen Ausweg finden. Selbst in dieser ungewöhnlichen Situation. Ich darf nur nicht in Panik geraten, die Nerven verlieren. Und sie setzte sich erst einmal ins Gras, um gründlich zu überlegen.
»Die Skaphander«, sagte No plötzlich, »vielleicht können wir mit ihnen etwas ausrichten. Ich bin ja gestern schon damit geflogen.«
»Es sind aber nur zwei, also zu wenig, um die andern zurückzuholen. Außerdem haben sie keine große Reichweite.«
»Besser als gar nichts. Was sollen wir sonst tun?«
»Gut«, erwiderte Vi, »gehn wir wieder nach Hause. Ich will sehen, wo Ol sie hingepackt hat.«
Diese Fluganzüge, in denen man wie Superman durch Raum und Zeit sausen konnte, waren aber nicht nur die letzte Hoffnung für die beiden, sie hatten auch im Synchronautikzentrum für Aufregung gesorgt. Vor allem durch die Tatsache, daß Ol sie angeblich brauchte, um den Jungen No aus der Zukunft zurückzuholen. Or, der Direktor des Zentrums, hatte das zunächst gar nicht glauben wollen.
Or war einer der obersten Herrscher auf der Irena, und er hatte nur eine Sorge: die Macht der Massaren zu sichern und alles, was von anderen Planeten kam, unter Kontrolle zu halten. Ol, einer seiner geschicktesten Tunnelpiloten, war zu seinem Leidwesen ein Vitant, das heißt ein Angehöriger jener Gruppe von Leuten, die mit der Erde gute Beziehungen aufnehmen wollten. Ein Plan, der den Massaren überhaupt nicht gefiel, denn sie waren auf Eroberung aus.
Deshalb mußte man nach Ors Meinung auch auf Ol aufpassen, durfte ihm nicht zuviel erlauben. Andererseits war er aber der beste Techniker auf der Irena und kannte sich hervorragend mit dem Tunnelsystem aus. Die Massaren konnten kaum auf sein Wissen verzichten.
Als Ol dem Direktor von den sonderbaren Veränderungen im Hauptschacht berichtete, war dieser aufs höchste beunruhigt. Nur deshalb gab er die beiden Zeitanzüge heraus – der Pilot sollte der Sache auf den Grund gehen. No war ihm dagegen egal. Mit ihm konnte er sowieso nichts anfangen, weshalb sollte er sich seinetwegen aufregen.