Doch das alles war für ihn unerreichbar. Er war gefangen, und der Staub setzte sich in seiner Nase fest, in den Augen, ja sogar in der Kehle.
Achr mußte husten, auf einmal erschien ihm sein gewaltiger Zorn, sein Groll auf den Tapferen Löwen und den Höhlenlöwen, der so unvermittelt im Zauberland aufgetaucht war, klein und nichtig. Eigentlich lohnt sich der Streit nicht, dachte er, es gibt Wichtigeres, ich sollte mich mit ihm vertragen. Immerhin lebten schon unsere Vorfahren zusammen und sind miteinander ausgekommen.
DIE RETTUNG
In diesem Augenblick geschah etwas Sonderbares. Kaum war der Tiger friedfertig geworden, kaum hatte er das Böse und Feindselige aus seinen Gedanken verdrängt, spürte er ein Kribbeln in seiner vom Staub ganz trockenen und heißen Nase. Er streckte vorsichtig die Pfote aus und stellte zu seiner großen Überraschung fest, daß die Barriere verschwunden war. Der Weg nach vorn war urplötzlich frei, und auch das Atmen wurde wieder leichter. Frische kühle Luft kitzelte angenehm seine Nüstern. Achr sauste beglückt los.
Doch er kam nicht weit. Noch halb blind von dem gräßlichen Staub, der hinter ihm zurückblieb, machte er einige Sätze, übersah aber einen unvermittelt vor ihm auftauchenden Abgrund. Vergeblich versuchte er, mitten im Sprung anzuhalten, es gelang nicht.
Hals über Kopf stürzte Achr zum zweitenmal an diesem unglückseligen Tag in die Tiefe. Nur mit Mühe federte er den Fall ab, blieb danach wie betäubt am Boden liegen.
Damit waren die Schrecken dieses Tages allerdings noch lange nicht ausgestanden. Der Tiger hatte sich kaum etwas von seinem Sturz erholt, da befand er sich schon wieder in der Luft. Besser gesagt, er spürte, wie er am Schlaffittchen gepackt und hochgehoben wurde. Das war ihm seit frühester Kindheit nicht mehr widerfahren. Ja, jemand hielt ihn in die Höhe und wendete ihn hin und her, als wollte er sich vergewissern, was für ein seltsames Spielzeug ihm zugefallen war.
Der Tiger irrte sich nicht. Er sah ein Paar riesiger Augen auf sich gerichtet, die ihn neugierig musterten. Eine entsprechend große Nase saß darunter, ein gewaltiger Mund, und das alles gehörte zu einem Gesicht von beträchtlichen Ausmaßen. Ein Riesenkerl mit mächtigen Fäusten hielt Achr gepackt.
Aufs äußerste erbost, daß man ihn wie ein Hündchen behandelte, setzte sich der Tiger zur Wehr. Er riß fauchend den Rachen auf, schlug mit den starken Tatzen nach dem fremden Gesicht, um dem Kerl die Nase zu zerfetzen, ihm die Augen auszukratzen. Ein für allemal sollte ihm die Lust vergehen, einen Säbelzahntiger am Kragen zu packen. Doch der Riese ließ sich nicht überrumpeln. Blitzschnell brachte er seine Nase aus der Gefahrenzone, Achr dagegen bekam einen Klaps auf die Schnauze, der sich gewaschen hatte. Tränen der Kränkung traten ihm in die Augen, und der Schmerzensschrei, der seiner Kehle nun doch entfuhr, hörte sich an wie das Zischen eines schwelenden Holzscheits, wenn es ins Wasser getaucht wird.
Achr kochte vor Wut. Er begann sich nach Kräften zu winden und schlug seine Krallen in die Hand, die ihn festhielt. Nein, er war keine Hauskatze, das bewies das ohrenbetäubende Gebrüll, das sein Prankenhieb auslöste. Die große Hand ließ los, und Achr sauste ein drittes Mal in die Tiefe.
Also wirklich, heute war ganz und gar nicht sein Tag, er kam aus dem Fallen einfach nicht heraus! Bloß daß er diesmal zum Glück weich landete: in einem dunklen, weich federnden Verlies. Der Riese trug nämlich einen Sack bei sich, in den der Tiger stürzte!
Später wurde Achr herausgeschüttelt und fand sich auf dem Boden einer riesigen Höhle wieder, die den Riesen als Heimstatt diente. Augenblicklich war er auf den Beinen, bereit, sich mit Krallen und Zähnen gegen jeden Angriff zu verteidigen.
Diesmal sah der Tiger bereits drei Augenpaare auf sich gerichtet. Die Säulen aber, von denen er im ersten Moment geglaubt hatte, sie würden das Dach abstützen, erwiesen sich als drei Beinpaare. Sie standen so dicht beieinander, daß dem Gefangenen nicht die geringste Chance auf eine Flucht blieb.
Der Tiger setzte sich aufs Hinterteil, zeigte drohend seine spitzen Hauer und brüllte furchteinflößend:
»A-a-ch-ch-r-r-r!«
Als Antwort ertönte eine Stimme, die so laut hallte, daß sie den Tiger fast betäubte.
»Schau mal, Mama, wie lustig er ist. Er faucht sogar ein bißchen!«
Es war die Stimme eines Riesenmädchens, die in den Ohren der Mutter vielleicht niedlich, für ihn jedoch wie ein Donnergrollen klang. Achr klemmte den Schwanz ein.
Armer Tiger! Seine gefährlichen Zähne schreckten niemanden, und das drohende Gebrüll, das den Bewohnern des Zauberlandes fast das Blut in den Adern gefrieren ließ, war für die Riesen hier nichts als ein possierliches Gepiepse.
Wie Achr später erfuhr, wohnte in dieser Höhle eine kleine friedliche Familie vom Stamme der Uiden. Diesen Namen hatten sich die Riesen vor unendlich langer Zeit selbst gegeben. Zur Familie gehörten drei Personen: Papa A, der unterwegs auf den Tiger gestoßen war und ihn im Sack hergebracht hatte, Mama Ara und das Mädchen Ah.
Sie lebten in dieser Höhle, solange die kleine Ah denken konnte, und das waren immerhin fast sieben Riesenjahre. Schon vorher aber waren sie hier zu Hause gewesen, in diesem unterirdischen Tal, am Ufer eines unterirdischen Flusses. Freilich empfanden sie selbst weder das Tal noch den Fluß als unterirdisch, denn sie waren noch nie nach oben gelangt, zur Erdoberfläche. Für sie waren es einfach der Dunkle Fluß und das Tal. Nur Papa Ar erzählte manchmal vom Großvater, der wiederum von seinem Vater gehört hätte, irgendwo gäbe es noch eine andere Welt. An dieses Gerücht hatten aber schon die Alten nie so recht geglaubt, sondern alles für müßiges Geschwätz gehalten. Sie fühlten sich wohl in ihrem Tal, wo es trocken und warm und der Fluß reich an Fischen war. Was wollten sie mehr?
Lediglich eine entfernte Verwandte Ahs, eine zänkische Alte, hatte an allem etwas auszusetzen gehabt. Als sie dann eines Tages aus der Höhle verschwand und nicht mehr wiederkam, waren alle erleichtert.
Das Mädchen Ah liebte ihr Tal ebenfalls, nur fühlte sie sich manchmal ein bißchen einsam. Besonders wenn die Erwachsenen ihrem langweiligen Tagwerk nachgingen. Nun habe ich endlich jemanden zum Spielen, dachte das Mädchen erfreut, während sie das drollige kleine Tier betrachtete. Wie ulkig das Kerlchen doch aussieht mit seinen winzigen spitzen Zähnen, die aus der Schnauze ragen, und mit seinem gestreiften Fell!
»Wir wollen ihn Achr nennen«, schlug sie vor, »er hat sich ja selbst so vorgestellt. Außerdem erinnert sein Name an den von Großvater Aracha.«
Gegen diesen Vorschlag hatte niemand etwas einzuwenden, und so wurde der Säbelzahntiger zum zweitenmal auf den Namen Achr getauft, zu Ehren des ihm unbekannten Großvaters.
Das Mädchen Ah war höchst zufrieden, als das Tierchen, kaum daß sie es mit seinem Namen ansprach, sofort den Kopf hob und sie anschaute. Sie wollte, beflügelt von ihrem Erfolg, seinen Rücken streicheln, doch der Tiger sträubte derart bedrohlich sein Fell, daß sie von ihrem Vorhaben abließ. Schließlich waren die Kratzer auf der Hand ihres Vaters nicht zu übersehen.
Und tatsächlich überlegte Achr auch einen Augenblick, ob er nicht nach dem Finger der Kleinen schnappen sollte. Doch war es vielleicht erst einmal besser, abzuwarten.
Als Ah dann vermutete, das kleine Tier könnte Hunger und Durst haben, hatte der Tiger nichts einzuwenden. Wirklich, er konnte eine Stärkung gebrauchen, der Magen knurrte ihm, und der Hals war ganz ausgetrocknet.
Das Mädchen stellte ihm eine Schüssel mit Wasser hin und warf ihm ein »Fischchen« vor die Füße, das nur wenig kleiner war als er selbst. Um diesen Gründling zu bändigen, der noch lebte und erbost mit dem Schwanz schlug, mußte Achr alle Kräfte aufbieten. Doch schließlich trug er den Sieg davon, sättigte sich und löschte auch seinen Durst, indem er die Schüssel Wasser leertrank. Damit gab er zu verstehen, daß er seine Rolle als zahmes Haustier zumindest fürs erste annahm.