Ol sah ihren Bemühungen einen Moment lang zu, ohne einzugreifen. Dann erklärte er:
»Hör schon auf, man kann von einem fahrenden Zug nicht abspringen. Noch dazu, wenn er so dahinrast wie dieser. Und wenn man es könnte, würde man sich alle Knochen brechen. Unsere Gesundheit werden wir aber noch brauchen.«
»Was sollen wir bloß tun?« fragte Mo bedrückt.
»Wir müssen uns um einige tausend Jahre voraus in die Zukunft tragen lassen«, erwiderte Ol, »das ist nicht mehr zu ändern.«
Obwohl die beiden Kinder sich so ungeheuer große Zeiträume nicht richtig vorstellen konnten, waren sie für den Augenblick sprachlos. Entgeistert starrten sie Ol an.
Nach einer Weile sagte Viola:
»Tausende von Jahren? Bleiben wir wenigstens hier, auf der Irena?«
»Es sieht so aus. Allerdings könnten wir später auch zur Erde gelangen. Nach meinen Berechnungen sogar schneller als bisher und wahrscheinlich in die Vergangenheit.«
Mo war von dieser Aussicht sehr angetan, seine Augen begannen zu funkeln.
»Also ich wäre dafür, zur Erde zu fliegen«, sagte er. »Vielleicht kommen wir in jene Epoche, als Atlantis noch existierte. Zu schade, daß No nicht bei uns ist.«
»Und wie sollen wir auf der Erde Mama treffen?« fragte Viola, der die Tränen in die Augen stiegen. »Wenn sie uns sucht, dann auf der Irena.«
»Der Tunnel wird uns zunächst sowieso keine Wahl lassen«, erwiderte Ol, »wir werden im Sog bleiben, bis er uns freigibt. Erst dann können wir weitersehn.«
Die Kinder schwiegen erneut, und da die Geschwindigkeit immer größer wurde, preßte sich Viola fest an ihren Vater. Er war ihr einziger Schutz, und so hielt sie auch dem Druck besser stand.
Mo aber erkundigte sich:
»Wie lange kann es denn dauern, bis uns der Tunnel wieder freigibt?«
»Wenn ich es richtig einschätze, ungefähr eine Woche.«
Viola war entsetzt.
»Eine ganze Woche? Aber bis dahin verhungern wir. Durst habe ich schon jetzt.«
Mo wußte Bescheid:
»Eine Woche – das könnten wir gerade noch schaffen. Ohne Wasser, meine ich, so lange steht der Mensch es notfalls durch. Ohne Essen kommt er dagegen bis zu einem Monat aus.«
»Ihr braucht keine Angst zu haben, wir verhungern und verdursten schon nicht«, beruhigte Ol die beiden. »Wir kommen bald am Elmenland vorbei, wo man sich in ein körperloses Wesen verwandelt, das keine Nahrung benötigt. Ihr habt damit ja bereits eure Erfahrungen gemacht.«
Und wirklich – als durchscheinende Wesen, Geistern aus dem Jenseits ähnlich, wurden sie nach sieben Tagen zum Ende des Tunnels geschleust. Erst hier wurden sie wieder sie selbst. Der Sog verebbte, und sie gelangten zum Ausgang.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war allerdings niederschmetternd. Zu Hause hatten eine warme, freundliche Sonne, saftiges grünes Gras und ein üppiger Wald ihr Auge erfreut. Vögel hatten gezwitschert, blaue Seen und sprudelnde Bäche zum Baden eingeladen. Vor allem aber hatte es Menschen gegeben, Massaren und Vitanten. Hier dagegen war nichts Lebendiges zu entdecken. Eine bläßliche Scheibe hing schief an einem traurig grauen Himmel, der den Betrachter wehmütig stimmte. Kein Gedanke, daß von dort freundliche Sonnenstrahlen zur Erde dringen könnten. Überhaupt wirkte alles ringsum trist und grau, wie von Schimmel oder Spinnweben überzogen. Wo sollte da Vogelgezwitscher herkommen? Und statt blauer Seen gab es nur bräunlichen Morast.
Sie hielten Ausschau nach einem Lebenszeichen – vergeblich. Kein Haus, keine Rauchfahne, die auf ein Feuer hingedeutet hätte, und schon gar kein Kinderlachen.
Nur eine gigantische Spur durchzog in Windungen die Einöde, sie schien alles plattgewalzt zu haben.
Selbst Ol, der als Raumflieger schon so manchen unwirtlichen Planeten gesehen hatte, war erschrocken. Wie sollen wir uns hier bloß behaupten, dachte er. Doch er verbarg seine Betroffenheit, tat, als sei alles normal.
Zum Glück nahmen die Kinder die Sache nicht so tragisch. Zwar gefiel ihnen diese Landschaft genausowenig, aber sie wurden durch die breite Spur abgelenkt, deren Ursache sie sich nicht erklären konnten.
»Sie rührt von nichts anderem als dem Tunnel her«, sagte Ol, »der Eingang hat sich über die Jahrtausende durch den riesigen Druck beträchtlich verschoben. Wenn ich nur wüßte, wo wir genau sind.«
»Und der Schutzschild um den Elming«, fragte Mo, »was ist aus dem geworden?«
»Den gibt es nicht mehr, die Energie für das Magnetfeld fehlt.«
»Wenn wir dieser Spur folgen, müßten wir aber irgendwann zu dem Platz kommen, wo der Elming war und wo unser Haus stand«, sagte Viola hoffnungsvoll.
»Da befindet sich doch nichts mehr«, wandte Mo ein, »wir sollten besser versuchen, zur Erde zu gelangen, nach Atlantis.«
Er hatte nicht vergessen, daß Ol anfangs von dieser Möglichkeit gesprochen hatte.
»So einfach geht das nicht«, erwiderte Violas Vater, »erst muß der Weg zur Erde wieder frei sein.«
»Aber wann ist das, und wie sollen wir es erfahren, wenn wir nicht am Tunneleingang bleiben?« beharrte Mo.
»Bis es soweit ist, wird einige Zeit vergehen«, erklärte Ol. »Vielleicht haben wir Glück und brauchen uns nicht allzu weit zu entfernen. Es sieht aus, als habe sich der Tunnel in Schlingerbewegungen einfach nur hin und her gewälzt.«
DIE FLUGMOLCHE
Der erste Schritt ins Freie brachte einen unvorhergesehenen Sturz mit sich. Sie glaubten, festen Boden unter den Füßen zu haben, versanken aber bis über die Knöchel im Staub, stolperten und fielen hin. Doch sie fielen weich, die graue Masse nahm sie fast schmeichelnd in Empfang. Nur stob der Schmutz in so dichten Wolken auf, daß es ihnen regelrecht den Atem benahm. Die drei husteten, spuckten und richteten sich ziemlich ärgerlich wieder auf. Das fing ja gut an!
Ihre Kehlen waren ausgetrocknet, und ihr erster Gedanke galt dem Aufspüren von Wasser. Um sich sattzutrinken und, wenn möglich, zu waschen. Aber sie konnten keinen Bach, Fluß oder gar See entdecken. Nur graue, trockene Ödnis.
»Viola hat recht, wir sollten dieser Spur folgen«, sagte Ol. »Hier ist der Boden wenigstens glattgewalzt, und der Staub liegt nicht ganz so hoch. Vielleicht erreichen wir eine bewohnte Gegend. Wenn nicht, können wir immer noch zum Tunnel zurückkehren.«
Insgeheim aber dachte er an den Bach, der in der Nähe des Elmings geflossen war, an den Teich hinter ihrem Haus und an das Haus selbst. Steinbauten aus der Vergangenheit der Irena hatten viele Jahrhunderte überdauert. Warum sollten Gebäude der neueren Epochen, die aus unverwüstlichem Kunststoff gefertigt waren, nicht Jahrtausende überstehen.
Sie stapften los, bemüht, nicht so viel Staub aufzuwirbeln. Es wurde ein anstrengender Marsch. Manchmal wollten sie schon aufgeben, denn die Landschaft veränderte sich kaum, und vor allem Mo kam immer wieder auf die Erde zu sprechen, die man nur durch den Tunnel erreichen konnte. Aber Ol war nicht so schnell von seinem Plan abzubringen, und nach mehreren Stunden Wanderung gab es endlich einen Hoffnungsschimmer. In der Ferne sahen sie eine Erhebung.
Es war nur ein bescheidener Hügel, zum Teil mit Gestrüpp bewachsen, wie es schien, doch die drei begrüßten ihn fast enthusiastisch.
»Wenn dort Sträucher sind, gibt es in der Nähe vielleicht Wasser«, rief Viola.
»Ja, einen Teich mit Fischen, die man fangen und braten kann«, ergänzte Mo. »Auf unserer Insel hab ich mich gut auf den Fischfang verstanden.«
»Warten wir’s ab.« Ol dämpfte die Freude etwas. »Wir wollen nicht gleich zuviel erhoffen.«
Viola rannte trotzdem sofort los, wirbelte aber schon bei den ersten Schritten soviel Staub auf, daß sie erschrocken stehenblieb. Es half nichts, sie mußten langsam gehen, sich in Geduld fassen.
Als sie näherkamen, bemerkten sie etwas Unförmiges, das über dem Hügel in der Luft hing. Es stand ganz ruhig da oder bewegte sich sacht wie eine große Fahne bei leichtem Wind. Wind geht aber nicht, dachte Ol, es kann keine Fahne sein. Daß auch nicht der leiseste Hauch wehte, war übrigens Glück, denn wenn hier, unter diesen Bedingungen, ein Sturm aufkam, waren sie verloren. Es mußte schlimmer sein als in der Wüste, wo vom Sand ja auch schon innerhalb kürzester Zeit Menschen und Tiere verschüttet wurden.