»Was kann das bloß sein?« fragte Viola erstaunt. »Es sieht aus wie ein riesiger Luftballon. Andererseits ist es nicht rund, sondern langgestreckt und flach. Jetzt, wo es sich zur Seite neigt, könnte man es für ein Gummiboot ohne Boden halten, nein, für einen großen Kringel oder eine Brezel.«
»Eine Brezel, die fliegen kann, was denn noch«, erwiderte, ein wenig spöttisch, Mo.
Ol dagegen, der angestrengt zum Hügel starrte, schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
»Aber ja doch, eine Brezel!« rief er. »Ein Kringel, der in der Luft schwebt, begreift ihr denn nicht? Das ist ein Flugmolch, wie er leibt und lebt, nichts anderes. Die gibt es also noch, die haben diese unendlichen Zeiten überstanden.«
Flugmolche waren eine Art Amphibien, die sich weniger gut auf dem Land, umso besser aber im Wasser und in der Luft bewegen konnten. Sie waren nur auf der Irena zu Hause und den Bewohnern dort seit jeher vertraut. Man brauchte sie nicht zu fürchten, denn sie griffen die Menschen nicht an, verhielten sich eher scheu.
»Wenn sich hier Flugmolche aufhalten, gibt es auch Wasser«, sagte Ol erfreut, »das kann gar nicht anders sein.«
Nun hatten sie es noch eiliger, zu dem Hügel zu kommen, ließen sich selbst vom Staub nicht mehr zurückhalten, der ihnen in Mund und Nase drang. Hustend und spuckend kamen sie schließlich an.
Tatsächlich war die Erhebung von Büschen und Gestrüpp umgeben – eine Vegetation, die an jene im Elming erinnerte. Überhaupt kam Ol die Gegend irgendwie bekannt vor. War hier etwa früher der Tunneleingang gewesen? Nicht direkt, dachte Ol, aber in der Nähe könnte er sich befunden haben.
Inzwischen waren Viola und Mo losgestürmt, um den Hügel genauer in Augenschein zu nehmen. Plötzlich brachen sie in ein Freudengeheul aus.
»Da ist ein Teich, wir haben Wasser gefunden!« rief Viola und rannte hin.
Die Bezeichnung Teich war allerdings reichlich geprahlt. Hinter Riedgras versteckt und mit grünlichen, an Entengrütze erinnernden Algen überwuchert, handelte es sich eher um einen Tümpel. Die Luft hier war dennoch frischer und nicht so trocken. Der Flugmolch, der direkt darüber hing, empfand das offenbar genauso.
Die Kinder zerteilten mit den Armen das Riedgras, knieten am Ufer des Tümpels nieder und schoben die Algen beiseite. Zu ihrer Überraschung war das Wasser kühl und klar. Sie schöpften es mit vollen Händen und stillten ihren Durst.
Auch Ol trank in großen Schlucken. Er war verwundert, daß das Wasser nicht faulig oder abgestanden schmeckte. Vermutlich wurde der Tümpel von einer noch immer aktiven unterirdischen Quelle gespeist.
Um das Wasserloch herum war eine Art Oase entstanden, und wenn es sich bei den Pflanzen auch um anspruchslose Gewächse handelte, die nicht viel zum Leben brauchten, so breiteten sie sich doch aus, wucherten und bildeten im grauen Einerlei der Landschaft eine grüne Insel.
»Es überrascht mich gar nicht, daß sich hier Flugmolche einfinden«, sagte Ol, »wer weiß, wo der nächste Teich oder Fluß ist. Die Irena scheint verwüstet und ausgestorben zu sein.«
»Du glaubst, wir sind die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten?« sagte Viola erschrocken.
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Ol, »vielleicht gibt es in anderen Gegenden menschliches Leben. Im Moment haben wir freilich kaum Möglichkeiten, das zu erkunden.«
»Wenigstens haben wir erst mal unseren Durst gestillt«, sagte Mo, der stets Optimist war.
»Schon richtig«, erwiderte Viola, »zu trinken haben wir. Allerdings ist mein Hunger dadurch nicht kleiner geworden. Im Gegenteil, ich könnte Frühstück, Mittag und Abendbrot auf einmal verschlingen.«
ELME AUF DER IRENA
Wie um ihren Worten Taten folgen zu lassen, riß Viola ein paar Riedgrasstengel mitsamt der Wurzel aus, befreite sie von Sand und Schlamm und biß geräuschvoll in die saftigen Knollen. Auf der Irena wurden diese Pflanzen als Gemüse benutzt, das mit seinem leicht süßlichen Geschmack vor allem Kindern zusagte. Als sie noch kleiner war, hatte sich das Mädchen oft den Bauch damit vollgeschlagen, bis sie Magendrücken bekam.
Den Hunger vermochte man mit diesen Knollen freilich nur schlecht zu stillen, eher wurde noch der Appetit angeregt. Mo, die Riedgraswurzeln kauend, sah sich deshalb suchend nach einem kräftigen Ast um, den er anspitzen und zum Fischfang benutzen konnte. Fische hatte er in dem Tümpel schon entdeckt, es wäre doch gelacht, wenn man nicht zu einer herzhafteren Mahlzeit käme, als es dieses Gemüse war.
Auch Ol konnte den Gedanken ans Essen nicht ganz verdrängen. So sehr er Tiere mochte und so erfreut er über das Auftauchen des Flugmolches war – wenn man ihn einfangen und in Stücke zerlegen würde, hätte man für ein paar Tage ausgesorgt. Sein Fleisch sollte etwas fade schmecken, doch was schadete das schon. Vielleicht gelang es ihnen, ein Feuer zu machen und das Tier wie ein Ferkel am Spieß zu braten.
Er riß sich von dem Gedanken los – so weit waren sie zum Glück noch nicht. Dem Flugmolch zublinzelnd, als wollte er ihn um Verzeihung bitten, wandte er sich von dem Tümpel ab und dem Hügel zu. Vielleicht gab es dort Pilze, Beeren, wild wachsendes Obst, größere Vögel oder sogar Kaninchen, für die man eine Falle bauen konnte.
Ol arbeitete sich durch stachliges Gras und Gestrüpp zu einer Stelle vor, wo der Hügel ziemlich steil abfiel, und plötzlich kam ihm die Gegend sehr vertraut vor. Dieser Teich, der Blick übers Land…wenn er sich noch ein paar Gebäude in der Ferne vorstellte, die allerdings nicht mehr existierten, und dazu eine Straße…
»Aber hier bin ich doch…« murmelte er und schob ein paar Sträucher auseinander, ohne sich um die Dornen zu scheren, die seine Hände zerkratzten, »ich bin doch…«
Er vollendete seinen Satz nicht, denn unvermutet sah er eine Tür vor sich. Sie war halb verschüttet, von einer dicken Staubschicht bedeckt und gehörte zu einer ins Erdreich gesetzten Mauer. Doch was hieß Mauer und ins Erdreich gesetzt, das da war viel mehr! Jawohl, es war ein ganzes Haus, begraben unter Staub und Steinen, zugeweht und äußerlich in einen Hügel verwandelt, auf dem sich Büsche und sogar kleine Bäume angesiedelt hatten. Um ihre Wurzeln wiederum hatte sich neuer Boden gebildet.
Ol wagte nicht zu glauben, was immer wahrscheinlicher wurde. Gemeinsam mit den Kindern, die auf seinen Ruf hin herbeieilten, legte er die Tür frei. Dazu benutzten sie einfach die Hände. Sie behalfen sich aber auch mit Stöcken, die sie von den Sträuchern brachen.
Die Tür gab nicht gleich nach, sprang jedoch mit einem Schnarren auf, als sie sich dagegen warfen. Offenbar war die Verriegelung zerbrochen. Der Eingang mußte vor unendlich langer Zeit verschlossen worden sein.
Die Kinder wollten sofort losstürmen, um das Innere des Hauses zu erforschen, doch Ol hielt sie zurück.
»Hiergeblieben, wir wissen ja gar nicht, was für Gefahren dort drin auf uns lauern. Wenn einer hineingeht, dann bin ich das. Ihr bleibt an der Tür, haltet Augen und Ohren offen. Nehmt eure Stöcke fest in die Hand, damit ihr mir im Notfall beistehen könnt.«
Das letzte meinte Violas Vater nicht gar so ernst, er wußte schon, daß er sich vor allem auf sich selbst verlassen mußte. Vorsichtig tastete er sich deshalb in der Dunkelheit vor, gelangte über einen kleinen Flur in ein größeres Zimmer. Durch ein Fenster, vor dem gleichfalls Sträucher wuchsen, sickerte etwas Licht herein. Nein, so vermodert und verfallen, wie er anfangs gedacht hatte, war das hier gar nicht. Und gefährliche Tiere, Giftschlangen oder so etwas, schien es auch nicht zu geben.