Выбрать главу

Achr leckte ihr schuldbewußt das Knie, das gleichfalls ein wenig aufgeschlagen war.

»Ich wollte dir nur klarmachen, daß uns niemand auf den Fersen ist«, murmelte er verlegen.

»Was denn, du kannst sprechen?!« Das Mädchen schlug vor Verwunderung die Hände zusammen. »Wieso hast du das nicht schon früher verraten?«

»Es gab keinen Grund dafür«, erwiderte Achr bescheiden. »Aber du brauchst nicht erstaunt zu sein. Ich komme schließlich aus dem Zauberland, und dort können alle sprechen: Menschen, Tiere und Vögel. Sogar der Weise Scheuch und der Eiserne Holzfäller.«

Ah beugte sich zu Achr hinunter, packte ihn bei seinen runden Backen und drückte ihm einen begeisterten Schmatz direkt auf die Nasenspitze.

Verwirrt, zugleich aber auch zufrieden, schüttelte der Tiger den Kopf und die Hände des Mädchens ab, wobei er ihr mit seiner rauhen Zunge flüchtig und wie unabsichtlich über die Wange strich.

Ein so freundliches Verhalten gereichte einem einstmals gefürchteten Räuber und Anführer eines ganzen Rudels von Säbelzahntigern nun gewiß nicht zur Ehre. Achr baute insgeheim darauf, daß ihn niemand sah und keiner im Zauberland je etwas davon erfuhr. Andererseits war er aber liebebedürftig wie alle Katzen, selbst wenn er seinen Kopf für sich hatte!

Das Mädchen Ah dagegen, noch immer verblüfft und aufs höchste beglückt, daß sie jemanden hatte, mit dem sie nicht nur spielen, sondern sich auch unterhalten konnte, plapperte munter drauflos. Sie erzählte dem Tiger, daß die Bewohner im Uidenland schon seit Urzeiten von der Existenz der langhälsigen Glua wüßten. Sie war, soweit man zurückdenken konnte, in dem Dunklen Fluß zu Hause, verschwand zwar manchmal für einige Zeit, tauchte dann aber urplötzlich wieder auf. Man munkelte sogar, die zänkische Alte sei damals nicht freiwillig davongelaufen, sondern von der geheimnisvollen Glua entführt worden.

Der Säbelzahntiger seinerseits erinnerte sich an eine Geschichte, die von seinen Vorfahren überliefert war. Danach war eines Tages eine Riesin namens Arachna im Zauberland aufgetaucht, von der niemand wußte, woher sie kam. Wegen ihrer Boshaftigkeit und ihrer Greueltaten hatte der Große Zauberer Hurrikap sie in einen mehrere tausend Jahre währenden Schlaf versenkt. Nach dieser Zeit aber war sie wieder erwacht und hatte aus Rache einen dichten Nebel über das ganze Zauberland gebreitet. Die Bewohner nannten ihn den Gelben Nebel. Sie wären fast an ihm zugrunde gegangen.

Achr deutete auch an, diese Riesin und Ahs zänkische Urahnin könnten ein und dieselbe Person sein, das jedoch wollte das Mädchen nicht glauben.

Während der Tiger von seiner Heimat erzählte, dem fernen Zauberland, spürte Ah sein Heimweh. Und obwohl sie ihren neuen Spielgefährten gewaltig vermissen würde, beschloß sie, ihm bei seiner Rückkehr zu helfen.

Eine gewisse Rolle spielte dabei wohl auch der unbestimmte Wunsch, selber mal einen Blick auf dieses Oberirdische Reich zu werfen. Auf jene Welt voller Helligkeit, wo eine freundliche Sonne schien, weiches grünes Gras wuchs und so sympathische kleine Geschöpfe herumsprangen wie dieser furchtlose Achr.

Wenn diese Riesin in der oberen Welt wirklich meine böse Ahnin war, dachte sie unvermittelt, hat die Große Glua sie vielleicht doch entführt. Oder sie wurde vom Dunklen Ruß ins Zauberland gespült…

»Falsch, mein kleines Mädchen, ganz falsch!« flüsterte es da plötzlich neben ihr.

Ah fuhr erschrocken herum. Hinter einem der hier verstreut herumliegenden Steine entdeckte sie einen mächtigen Kopf. Es war das Haupt der Glua.

DIE GROSSE SCHLANGE

Das Mädchen Ah schrie auf und wich entsetzt zurück. Langsam, den Blick gebannt auf den Kopf gerichtet, der vielleicht zuschnappen würde, schob es sich Schritt um Schritt nach hinten. Nur möglichst weg von der Glua! Doch sie kam nicht weit, ihre Fersen stießen plötzlich an ein Hindernis. Sie wäre hingefallen, hätte nicht etwas Weiches und Federndes, das an ein elastisches Seil erinnerte, sie aufgefangen. Das Mädchen bekam es mit den Händen zu fassen und erschrak noch heftiger: das vermeintliche Tau war glitschig naß und nichts anderes als der zum Halbkreis geformte Schwanz der Schlange.

»Immer mit der Ruhe, meine Kleine, schön vorsichtig, sonst tust du dir noch weh«, zischte die Schlange leise und mit gedehnter Stimme. »Der Glua kann man nicht entkommen, schau nur richtig hin!«

Ah blickte sich um und stellte fest, daß die ganze Lichtung, auf der sie haltgemacht hatten, von der Schlange eingenommen wurde. Dabei hatten sie geglaubt, ihr entwischt zu sein!

Die Glua schickte eine sanfte Wellenbewegung durch ihren langgezogenen Körper, so daß ihre wunderschöne perlmuttfarbene Schuppenhaut sichtbar wurde.

Ah verfolgte fasziniert dieses Wellenspiel, das sich über die ganze Lichtung hinweg fortsetzte. Ihr wurde direkt schwindlig davon.

Der Säbelzahntiger dagegen hatte sich angriffslustig zum Sprung geduckt. Bei den ersten zischenden Lauten der Schlange glaubte er noch, es erneut mit einer gefährlichen Schua zu tun zu haben, und auch als er seinen Irrtum erkannte, gab er sich nicht geschlagen. Er lauerte auf eine Gelegenheit, sich in der Schwanzspitze der Glua festzubeißen. Doch diese Gelegenheit kam nicht. Im Gegenteil, die Glua packte ihn mit eben diesem Schwanzende und hob ihn hoch in die Luft.

»Wer wird denn so wagemutig sein, mein Kätzchen!« sagte die Schlange spöttisch und beobachtete belustigt, wie der Tiger verzweifelt, aber völlig erfolglos mit den Beinen strampelte. »Willst du wieder abstürzen wie neulich, als du zu uns ins Tal gepurzelt bist? Das würde deinen Pfötchen gar nicht gut bekommen. Beruhige dich, ich fresse weder kleine Mädchen noch winzige Tiere, schon gar nicht, wenn sie so tapfer sind wie du. Übrigens schmecken sie mir auch nicht, selbst die boshafte Urahnin von Ah hab ich am Leben gelassen.«

»Dann kannten Sie meine Vorfahrin also, hatten mit ihr zu tun?« fragte das Mädchen, deren Neugier sogleich über die Furcht siegte. »Was ist mit ihr passiert?«

Die Glua lachte:

»Immer langsam, meine Kleine!« zischte sie. »Mit der Zeit wirst du schon noch erfahren, was du wissen willst.« Sie setzte den Tiger wieder auf die Erde.

»Du scheinst dich gut auszukennen«, sagte Achr. »Wenn du wirklich so allmächtig bist, wie es scheint, dann hilf mir zurück ins Zauberland. Bestimmt weißt du über die Tür in dem unterirdischen Gang Bescheid, die sich damals so unerwartet vor mir geöffnet hat.«

»Natürlich weiß ich, was es mit dieser Tür auf sich hat«, erwiderte die Glua. »Aber ein zweites Mal wird es dir nicht gelingen, dort hindurchzuschlüpfen.«

»Und weshalb nicht?« fragte der Tiger unzufrieden. »Nimmst du etwa an, ich sei hier unten im Land der Uiden dicker geworden?«

»Ganz und gar nicht!« Die Schlange lachte zischelnd. »Aber die Tür gibt nur dem den Weg frei, der eine Wandlung vom Bösen zum Guten durchmacht. Erinnere dich, was du seinerzeit in deiner Todesangst gedacht hast. Weißt du es noch?«

Natürlich wußte Achr das. Die furchtbaren Minuten im unterirdischen Gang, als er fast am Staub erstickt wäre, würde er nie vergessen!

»Ich habe daran gedacht, daß mein Streit mit den Löwen unsinnig war und daß wir uns in Zukunft besser vertragen sollten«, brummte er.

»Stimmt«, bestätigte die Schlange. »Du hast dich besonnen, wenn auch erst im letzten Augenblick. Die unsichtbare Wand hat sich geöffnet, weil du einsichtig warst. Doch dieses Wunder geschieht nur einmal. Zur Rückkehr steht dir dieser Weg nicht mehr zur Verfügung.«

Der Tiger legte betrübt den Kopf auf die Vorderpfoten. Das Mädchen Ah beugte sich über ihn und strich ihm tröstend übers Fell.