Der Sprung gelang. Die Schlange, die begriff, was die Riesin beabsichtigte, sah zunächst keine Möglichkeit, sie an Land zurückzuwerfen. Sie würde dabei nur die beiden Passagiere gefährden, die ohnehin alle Mühe hatten, sich an ihrem nassen, glitschigen Hals festzuhalten.
Doch dann griff sie zu einer List. Zwei Höcker oben an ihrem Hals formend, zwischen denen sie das Mädchen und den Tiger sicher einbettete, richtete sich die Glua erneut zu voller Höhe auf. Sie hoffte, die Riesin würde keinen Halt mehr finden und abrutschen. Wenn sie nicht vorher absprang, würde sie auf den Stein prallen, an dem sie den Schwanz festgebunden hatte. Das würde ihr eine Lehre sein!
Aber die Schlange irrte sich. Arachna verstand sich hervorragend aufs Klettern. Die Riesin umklammerte mit Armen und Beinen den Leib der Glua und kraxelte, statt abzurutschen, behende immer höher.
Inzwischen ragten die beiden Halshöcker so hoch in die Luft, daß Ah unter sich kaum noch etwas erkennen konnte. Als die Schlange dann noch mit dem Kopf in eine dichte Wolkendecke über den Felsgipfeln eintauchte, vermochte das Mädchen überhaupt nichts mehr zu sehen. Und erst nachdem die Glua diesen Nebel, der an Schlagsahne erinnerte, durchbrochen hatte, begriff der Tiger plötzlich, wohin es sie verschlagen hatte!
»Das ist ja die Todesklippe!« fauchte er mit gesträubtem Fell, denn der Ort war gefürchtet. Aber gleich darauf wurde ihm bewußt, dem Unterirdischen Reich entronnen zu sein und sich nun wieder im Zauberland zu befinden.
Alle Bewohner des Zauberlandes kannten diese Klippe, die so furchterregend war, weil sie sich über einem bodenlosen Abgrund erhob.
Wie sich nun herausstellte, war dieser Abgrund gar nicht bodenlos! Er führte nur in ein ganz anderes Land, ins Unterirdische Reich der Uiden. Aber da nie jemand lebend dorthin gelangt oder gar zurückgekehrt war, überraschte es auch nicht, daß keiner etwas von der Existenz dieses Reiches wußte. Nur ein Wunder in Gestalt der Großen Glua hatte die Riesin Arachna seinerzeit erretten und dem Tiger Achr jetzt die Rückkehr in seine Heimat ermöglichen können. In seiner Begleitung aber durfte das Uidenmädchen Ah zum erstenmal in ihrem Leben das Oberirdische Reich betrachten: den blauen Himmel, die orangen leuchtende Sonne, die Berge im Licht, die Wälder und die Große Wüste.
Zweifelsohne hätte das Zauberland den Tiger Achr mit Vergnügen wieder aufgenommen, zumal er jetzt geläutert war. Auch den Gast aus dem Unterirdischen Reich der Uiden, das Mädchen Ah, hätte es willkommen geheißen. Die Riesin Arachna dagegen wünschte man dort ganz bestimmt nicht wiederzusehen. Aber leider hielt sich die Hexe nicht daran und tat alles, gleichfalls nach oben zu gelangen.
Die Glua hatte sich zu ihrer ganzen Größe aufgerichtet, um die beiden Passagiere auf der Todesklippe abzusetzen. Sie vibrierte vor Anspannung wie eine straff gespannte Saite, ihr Kopf beschrieb gewaltige Kreise in der Luft, so daß es den Tiger und das Mädchen um ein Haar gegen den Felsen geschlagen hätte.
Das aber hinderte Arachna nicht daran, wie eine Riesenraupe am Körper der Schlange emporzuklettern. Sie erinnerte sich, daß sie vor langer, langer Zeit von diesem Felsen in die Tiefe gestürzt und auf wundersame Weise von der Großen Glua mitten im Fluge aufgefangen worden war. Deshalb hoffte sie, auf demselben Wege, nur eben in umgekehrter Richtung, wieder zurück ins Zauberland zu gelangen, wo sie neue Bosheiten ersinnen und sich wie früher vom Volk der Zwerge bedienen lassen konnte.
Endlich hatte die Glua es geschafft, Ah und den Tiger weich auf dem Gipfel der Todesklippe abzusetzen. Sie wollten sich gerade voneinander verabschieden, als urplötzlich die Riesin aus der weißen Wolkenschicht auftauchte. Nicht mehr lange, und sie würde gleichfalls den Gipfel erreichen!
»Lauft schnell weg!« zischte die Glua. Dann schleuderte sie Arachna mit einer letzten Kraftanstrengung gegen die Felswand.
Die Schlange war so erschöpft von all diesen Mühen, daß sie gleich darauf entkräftet in sich zusammenfiel. Bloß gut, daß Arachna meinen Schwanz am Uferstein festgebunden hat, dachte sie, ich würde in den Fluten ertrinken.
DIE VERFOLGUNG
Alles ging so furchtbar schnell, daß keiner der Beteiligten auch nur zum Luftholen kam. Ehe sie sich’s versahen, war die Schlange wieder in dem milchigen Nebel versunken, das Mädchen und der Säbelzahntiger lagen auf dem flachen Plateau der Todesklippe, während die Riesin wie betäubt den steinigen Abhang hinunterrollte.
Nun waren sie ganz auf sich gestellt.
Das Mädchen Ah sprang sofort auf die Beine und schaute sich mit großen, vor Staunen weit geöffneten Augen in der neuen, für sie völlig ungewohnten Umgebung um. Ihr wäre nie und nimmer in den Sinn gekommen, daß ihr hier, in dieser freundlichen Welt, eine Gefahr drohen könnte.
Die Begeisterung des Tigers dagegen hielt sich in Grenzen. Zwar freute er sich, wieder zu Hause zu sein, doch sein Raubtierinstinkt blieb wach und ließ ihn zunächst vorsichtig nach allen Seiten spähen.
Er entdeckte schnell die Riesin, die reglos auf dem Abhang lag, und er mißtraute dieser Reglosigkeit; schließlich war Arachna für ihre Hinterlist bekannt. Er selbst würde mit ihr ja noch einigermaßen fertig werden, doch das arglose Mädchen Ah war ihr ausgeliefert. Er kannte die Geschichte vom Gelben Nebel und wußte, wozu die Riesin fähig war. Ihr mißfiel bestimmt, daß es Augenzeugen für ihre schmachvolle Ankunft im Zauberland gab, und gewiß wollte sie so lange wie möglich unentdeckt bleiben, um neue Gemeinheiten auszuhecken. Also würde sie alles daran setzen, ihn und Ah auszuschalten, damit niemand etwas von ihrer Anwesenheit verraten konnte.
Achr war also zur Verteidigung bereit, klopfte mit der Schwanzspitze schon ungeduldig auf die Erde. Doch die Riesin am Abhang dachte vorerst nicht daran, über sie herzufallen! Es sah eher so aus, als würde sie an gar nichts denken. Sie regte sich nicht, gab keinerlei Lebenszeichen von sich.
Vielleicht ist sie tot? sagte sich der Tiger hoffnungsvoll, und einen solchen Gedanken konnte man ihm fast nicht verübeln.
Ah dagegen schlug vor Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammen und rannte schnurstracks zu der Riesin.
»Laß mich los«, protestierte Ah, »vielleicht braucht sie unsere Hilfe!«
»Aber Arachna ist böse und gefährlich.«
»Erst einmal müssen wir feststellen, ob sie sich verletzt hat.«
»Na gut, aber dann geh ich voran«, erklärte der Tiger entschieden. Er staunte selber, wie nachgiebig er geworden war.
Achr sprang voraus und näherte sich behutsam der Riesin. Arachna lag tatsächlich in einer tiefen Ohnmacht. Sie hatte sich beim Klettern total verausgabt, und der Aufprall auf die Steine hatte ihr das Bewußtsein genommen. Doch sie atmete, und von einer Verletzung war nichts zu sehen.
»Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden«, beharrte Achr, »schließlich hat uns auch die Schlange Glua zur Flucht geraten. Wacht Arachna erst mal auf, ist es womöglich zu spät. Außerdem wird sich ihre Ankunft ohnehin bald herumsprechen. Im Zauberland wachen Tausende von Augen und Ohren über alles, was geschieht. In der Luft kreisen die Riesenadler mit Karfax an der Spitze, und es gibt die Vogelpost der Krähe Kaggi-Karr. Auf dem Boden wiederum sind die Zwerge allgegenwärtig; sie tarnen sich so geschickt, daß man sie selbst bei genauem Hinschauen nicht entdeckt. Unter der Erde schließlich tummelt sich das Mäusevolk der Königin Ramina.«
Wer wußte besser als die einstige Raubkatze Achr, daß die Bewohner des Zauberlandes stets auf der Hut vor allen möglichen Feinden waren.
Ah sah unschlüssig den Tiger an, dessen Fell sich vor Besorgnis sträubte, dann richtete sie den Blick wieder auf Arachna. Die Zauberin lag schmutzig und mit wirrem Haar noch immer leblos da, ihr Gesicht wirkte trotz der Ohnmacht böse und hinterhältig.