Denn zwischen der herrschsüchtigen Riesin Karena und den sanftmütigen Zwergen stand es in diesen Tagen ganz und gar nicht zum besten. Die Zwerge waren die Ureinwohner dieses Landstrichs, sie hatten ihr Reich Taurekien genannt und bezeichneten sich selbst als Taureker. Keiner von ihnen hätte freilich sagen können, wann Karena in dieser Gegend aufgetaucht war. Dabei hielten sie das Andenken an ihre Vorfahren sehr hoch, führten eine genaue Chronik über sämtliche Geschehnisse.
Da aber niemand mehr wußte, wie lange die Riesin hier lebte, meinten die Zwerge, daß es schon immer so gewesen sei und sie folglich seit jeher ihre Untertanen wären.
Deshalb hätten sie es auch hingenommen, ihr zu dienen, wäre Karena nicht so böse, zänkisch und aufbrausend gewesen. Gutmütig wie diese kleinen Menschen waren, hätten sie ihr sogar freiwillig Gefolgschaft geleistet, hätte sich nicht ihr ganzer Stolz gegen die strenge, ungerechte Behandlung aufgebäumt, die ihnen widerfuhr. Karena bestrafte sie nämlich auf grausame Weise für jede noch so geringe Unachtsamkeit.
Doch was sollten sie tun. Gewiß, sie konnten einfach davonlaufen, sich verstecken – die Riesin würde sie ganz bestimmt nicht wiederfinden. Sie waren ja Meister der Tarnung! Wenn sie ihre grauen Capes und Zipfelmützen anlegten, waren sie auf dem steinigen Grund nicht mehr zu sehen. Außerdem gab es unzählige Bodenlöcher, Spalten und Höhlen, in die sie kriechen konnten. Selbst von ihresgleichen waren sie dann kaum zu entdecken, geschweige denn von der Alten aus ihrer gewaltigen Höhe herab.
Auf Dauer allerdings konnten sich die Taureker trotz allem nicht verbergen, es entsprach auch nicht ihrer Natur. Das größte Unglück aber sahen sie darin, daß Karena eine garstige Hexe war. Alle möglichen bösen Mächte waren ihr Untertan. Sie kannte unzählige Beschwörungsformeln, verstand es, Unheil und schlimme Krankheiten über die Zwerge zu bringen. Hatte sie jedoch einmal eine Formel vergessen, zog sie ihr großes Zauberbuch zu Rate. Darin war anscheinend alles Ungemach der Welt versammelt.
Außerdem besaß Karena einen großen Fliegenden Teppich, an dem wohl Generationen von Taurekern gewirkt hatten. Auf ihm flog sie in regelmäßigen Abständen ihre riesigen Besitztümer ab, um nach dem Rechten zu sehen.
Die Taureker dagegen bedienten, solange sie zurückdenken konnten, sowohl eine gewaltige Stein- als auch eine riesige Wassermühle. Sie machten den Lärm, an den sich Arachna in ihrem Traum erinnert hatte. Die Steinmühle zerkleinerte mit ihren von einem mächtigen Rad angetriebenen Mahlsteinen große Felsblöcke zu Staub. Diese Blöcke wurden vorher mühsam von den Felswänden abgeschlagen, die das flache Land Taurekiens umgaben. Auf diese Weise wollte Karena das Tal erweitern und über die Jahrtausende hin mehr Raum für sich schaffen. Das war ihr auch gelungen. Der von den Mahlsteinen aufsteigende gelbe Staub aber wurde über ein ganzes System von Rohrleitungen in die nahegelegene Schlucht gelenkt. Sie war sehr schmal, sehr tief und führte in vielen Windungen in eine unergründliche Ferne.
Die Wassermühle beruhte auf dem gleichen Prinzip. Sie wurde nicht etwa von einem Bach oder Fluß angetrieben, sondern schöpfte im Gegenteil Wasser mit vielen kleinen Schaufeleimern aus einem benachbarten See. Von einer unterirdischen Quelle gespeist, hätte dieser See Taurekien längst überschwemmt, wäre er nicht von den Zwergen stets auf dem gleichen Stand gehalten worden. Durch ein ebenfalls ausgeklügeltes Rohrsystem wurde das Wasser dann in die bereits erwähnte Schlucht geleitet. Beide Mühlräder aber wurden allein durch die Kraft der winzigen Menschen in Gang gehalten.
Die Stelle nun, wo das Wasser auf den gelben Steinstaub traf, bevor es ihn in die Schlucht hinunterspülte, war bei den Zwergen sehr gefürchtet. Mehr noch, sie war ihnen unheimlich, denn hier bildeten Steinstaub und Flüssigkeit einen dichten gelben Nebel. Er stand Tag und Nacht über der Schlucht und formte bei Wind die seltsamsten, grusligsten Gebilde. Sie erinnerten an Ungeheuer, die unablässig miteinander rangen, sich ineinander verkeilten und gegenseitig auffraßen. Wegen dieser undurchdringlichen Wolken wußte niemand, wie tief die Schlucht war und wie weit sie sich erstreckte. Denn jeder, der es wagte, in den Nebel einzudringen, erstickte darin. Das gleiche Schicksal ereilte übrigens auch alle, die bei ihrer Herrin in Ungnade gefallen waren. Sie wurden ergriffen und kurzerhand in die Schlucht geworfen.
Tag für Tag rückten zwei Zwergenheere zu den Mühlen aus. Sie kletterten ins Innere der Räder und ließen sie kreisen, indem sie von einer Strebe zur anderen klommen.
Die beiden Zwergentrupps wohnten getrennt, jeder für sich in einer eigenen Siedlung. Sie trugen auch zwei unterschiedliche Namen, die erst zusammengenommen die Bezeichnung des gesamten Zwergenvolkes bildeten. Die einen waren die Tau, die anderen die Reker.
Die Tau bedienten die gewaltige Steinmühle, die Reker waren für die große Wassermühle zuständig. Karena hatte diese Trennung einst eingeführt, um die Gruppen gegeneinander ausspielen zu können. Auf ihr spezielles Geheiß hin mußten sich die Zwerge sogar unterschiedlich kleiden – die Tau trugen Gelb, die Reker Blau.
Jede Stammesgruppe besaß ihren Ältesten. Den Tau stand ein gewisser Kastao vor, ein Männchen mit üppigem Bart, die Reker dagegen wurden von Antreno angeführt, dessen Bart zwar nicht ganz so üppig, dafür aber schön lang war. Die zwei waren keineswegs miteinander verfeindet, obwohl die Hexe Karena das ganz gern gesehen hätte. Sie sagte sich, daß es bestimmt besser war, wenn die beiden ihren Zorn gegeneinander richteten als gegen sie und ihre Mühlen.
Tau und Reker aber hielten Freundschaft. Sie besuchten sich gegenseitig, feierten gemeinsam, die jungen Männer und Frauen des einen Stammes konnten sogar in den jeweils anderen aufgenommen werden, wenn sie es wünschten. Zu diesem Zweck wechselten sie einfach die Farbe ihrer Kleider und zogen in das andere Lager.
All jene Zwerge, die in Karenas Schloß lebten und ihr unmittelbar dienten, trugen graue Gewänder. Sie bildeten keinen gesonderten Stamm, sondern legten morgens, wenn sie zur Arbeit erschienen, lediglich die entsprechende Kleidung an.
Die Taureker waren, wie erwähnt, freundliche Wesen, sie hatten ihr Schicksal lange geduldig ertragen, doch nun war der Tag gekommen, da sie den Entschluß faßten, der Hexe Karena den Kampf anzusagen.
Zur Nacht, als in beiden Siedlungen die Lichter verloschen waren und sich in Karenas Schloß die Hektik gelegt hatte, die dem Abendbrot und dem Zubettgehen der Hexe voranging, konnte man in einem kleinen Anbau der Steinmühle einen schwachen, rötlich glimmenden Lichtschein erspähen. Die beiden Mühlen ragten düster aus dem nächtlichen Dunkel auf, und wäre jemand mutig genug gewesen, um diese Zeit hierher zu kommen, er hätte durch ein schmales Fenster drei Taureker entdeckt. Sie saßen an einem Feuer, das direkt auf dem Steinfußboden entfacht worden war. Einer von ihnen trug die blaue Tracht der Reker – es war der Älteste Antreno. Der zweite Mann war Kastao, Abgesandter der Tau, und der dritte schließlich, ganz in Grau, war aus dem Schloß herbeigeeilt.
Die drei hatten sich hier zusammengefunden, um einen Aufstand gegen Karena vorzubereiten. Beginnen sollte es damit, daß am nächsten Tag niemand zur Arbeit erschien. Die Mühlräder würden zum erstenmal seit vielen hundert Jahren stillstehn. Sie hatten Tag für Tag nach neuer Nahrung, nach immer mehr Steinen und Wasser verlangt, nun war erst einmal Schluß damit.
Für die Hexe selbst aber hatten sich die drei Männer eine besondere Überraschung ausgedacht. Wenn sie am Morgen erwachte, sollte sie im Schloß keinen einzigen Diener vorfinden. Das Becken für ihr tägliches Bad würde leer bleiben, das Wasser zum Waschen eiskalt sein. Man würde kein Essen kochen und schon gar nicht die über Nacht ausgekühlten Gemächer heizen.