Es dauerte sehr lange, bis der Hinterste wieder auf dem Flugdeck erschien. Er sah müde und ungekämmt aus. »Offenbar hattest du mit deiner Vermutung recht«, sagte er. »Der Scrith enthält nicht nur ein magnetisches Feld, sondern die gesamte Ringwelt-Struktur ist mit Superleiter-Kabeln durchzogen.«
»Das ist eine gute Nachricht«, erwiderte Louis. Ihm schien ein Stein vom Herzen zu fallen. »Das ist großartig! Aber woher konnten die Städtebauer das wissen? Ich traue ihnen nicht zu, daß sie das Scrith-Matenal aufbohrten, um nach Superleitern zu suchen.«
»Nein. Sie stellten Magnete für Kompasse her. Damit spürten sie das Netzwerk der Superleiter im Ringweltboden auf, das in einem hexagonalen Muster verlegt ist, dessen Durchmesser fünfzigtausend Meilen beträgt. Das half ihnen, Karten der Ringwelt herzustellen. Aber Jahrhunderte vergingen, ehe die Städtebauer so viel Physik beherrschten, um die Ursache dieser Magnetlinien zu erkennen. Diese Erkenntnis führte dann bei ihnen zur Entwicklung eigener Superleiter.«
»Die Bakterien, die ihr auf dem Artefakten ausgesät habt.«
»Sie können nicht an das Superleiter-Netz heran, das im Scrith vergraben ist. Ich weiß natürlich, daß der Boden der Ringwelt nicht immun ist gegen Meteoriten bestimmter Größe. Wir können nur hoffen, daß die Meteoreinschläge das Superleiter-Netz nicht zerstörten.«
»Die Chance, daß das Netz heil geblieben ist, besteht durchaus.«
Der Puppetier dachte eine Weile nach und sagte dann: »Louis, suchen wir immer noch das Geheimnis der Materie-Umwandlung?«
»Nein.«
»Aber das wäre die Lösung für alle unsere Probleme«, erwiderte der Hinterste. »Der Materie-Umwandler muß gigantische Ausmaße gehabt haben. Es ist viel leichter, Materie in Energie zu verwandeln, als Materie in andere Materie. Nehmen wir an, wir feuern unter der Ringwelt an einem Punkt, der am weitesten von ihrer Sonne entfernt ist, eine Materie-Umwandlungs-Kanone ab, wie ich das Gerät bezeichnen möchte. Die Reaktion dieser Entladung würde die Ringwelt wieder in ihre ursprüngliche Lage versetzen. Selbstverständlich würde das nicht ganz problemlos ablaufen. Die Schockwelle würde viele Eingeborene töten, aber viele würden auch am Leben bleiben. Die Schutzschicht aus Scrith-Schaum, die dabei verbrennen würde, könnte später wieder aufgetragen werden. Warum lachst du?« »Du bist ein brillanter Denker. Nur hat das Ganze einen Haken. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß eine Materie-Umwandlungskanone jemals auf der Ringwelt existierte.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Halrloprillalar hat Nessus einen Bären aufgebunden. Sie beichtete uns das später. Und woher wollte sie denn wissen, auf welche Weise die Ringwelt entstanden war? Ihre Vorfahren waren noch primitive Affen, als der Artefakt erschaffen wurde.« Louis sah, wie der Puppetier seine Köpfe einzog und rief: »Ich möchte jetzt keine hysterischen Anwandlungen erleben! Dafür haben wir keine Zeit.«
»Aye, aye.«
»Was hast du noch herausgefunden?«
»Wenig genug. Die Analyse des Scrith ist noch nicht vollständig. Und mit dem Märchen von dem Großen Ozean kann ich nichts anfangen. Damit mußt du dich befassen.«
»Morgen.«
Geräusche, die zu leise waren, um einen Sinn zu ergeben, hielten ihn wach. Louis drehte sich im Dunkeln und im freien Fall um.
Das Licht reichte aus, daß er das Wasserbett sehen konnte. Kawaresksenjajok und Harkabeeparolyn lagen sich in den Armen und flüsterten sich gegenseitig etwas ins Ohr. Louis' Übersetzer vermochte das Flüstern nicht aufzufangen. Aber für ihn klang es wie Liebesgestammel. Als Louis einen jähen Stich von Eifersucht verspürte, mußte er über sich selbst lächeln. Er hatte geglaubt, der Junge wäre noch zu jung dazu. Er hatte geglaubt, die Frau hätte dem Sex abgeschworen. Aber Rishathra war Sex nicht gleichzusetzen. Und sie gehörten der gleichen Rasse an.
Louis drehte ihnen den Rücken zu und schloß die Augen. Er erwartete, eine rhythmische Wellentätigkeit zu vernehmen. Doch so ein Geräusch kam nicht. Und endlich schlief er ein.
Er träumte, er befand sich auf einem Sabbat-Flug.
Er stürzte, stürzte zwischen die Sterne. Wenn die Welt ihm zu bunt wurde, zu bedrückend, nicht mehr zu verkraften, weil sie ihn zu überwältigen drohte, war die Zeit gekommen, alle Welten hinter sich zu lassen. Louis hatte das schon mehrmals getan. Allein in einem kleinen Raumschiff war er in die unerforschten Lücken zwischen den bekannten Universen vorgestoßen, um zu schauen, was es dort zu sehen gab, und um zu erforschen, ob er sich noch selbst liebte. Nun schwebte Louis zwischen den Schlafplatten und träumte von dem Glücksgefühl, zwischen die Sterne zu fallen. Er hatte keine Verpflichtungen und keine Abhängigen, für die er sorgen mußte.
Und dann schrie eine Frau in panischem Entsetzen direkt neben seinem Ohr. Eine Ferse traf ihn heftig unter den losen Rippen, und Louis knickte mit einem hauchenden Schrei zusammen. Wild geschwungene Arme trafen ihn und schlossen sich dann mit einem Würgegriff um seinen Hals. Das Schreien hielt an.
Louis löste die Finger von seinem Hals. Er rief: »Schlaffeld aus!«
Die Schwerkraft kam wieder. Louis und sein Angreifer sanken auf die untere Platte hinunter. Harkabeeparolyn hörte auf zu schreien. Sie wehrte sich auch nicht, als er ihre Arme von seinen Schultern schob.
Der junge Karwaresksenjajok kniete neben ihr, erschrocken und verwirrt zugleich. Er redete in der Sprache der Städtebauer beschwörend auf sie ein. Die Frau fauchte ihn an.
Der Junge bestürmte sie mit Fragen. Endlich gab ihm Harkabeeparolyn Antwort. Der Junge nickte widerstrebend. Was sie ihm auch gesagt haben mochte, es gefiel ihm nicht. Er trat in eine Ecke, schickte Louis noch einen Blick zu, den er nicht zu deuten wußte, und verschwand im Laderaum.
Louis schaltete sein Ubersetzerkästchen ein: »Okay? Was ist hier eigentlich los?«
»Ich stürzte!« sagte sie schluchzend.
»Das ist kein Grund, ängstlich zu sein oder sich aufzuregen«, sagte Louis. »Es ist ein Zustand, in dem viele von uns gerne schlafen.«
Sie sah ihm ins Gesicht: »Schlafen im Fallen?«
»Ja.«
Ihr Gesichtsausdruck ließ sich jetzt mühelos deuten. Verrückt. Vollkommen verrückt... und dann ein Achselzucken. Sie nahm sich zusammen, als sie sagte: »Es ist mir bewußt, daß ich nun nicht mehr von Nutzen sein kann, weil deine Maschine viel schneller lesen kann als ich. Es gibt nur noch eine Möglichkeit, dir deine Mission zu erleichtem, indem ich dir den Schmerz über den Verzicht auf geschlechtliche Befriedigung beseitige.« »Das ist aber eine große Erleichterung«, erwiderte Louis. Es sollte sarkastisch klingen; aber würde sie das aus der Übersetzung heraushören? Louis hätte sich lieber auf die Zunge gebissen, als diese Art von Wohltätigkeit anzunehmen.
»Wenn du dich badest und gründlich deinen Mund säuberst.«
»Spar dir deinen Atem. Daß du dein Wohlbefinden höheren Zwecken opfern willst, ist anerkennenswert; aber es wäre ein Zeichen von schlechter Erziehung, wenn ich dieses Opfer annehmen würde.«
Sie sah verwirrt aus. »Luweewu? Möchtest du nicht Rishathra mit mir treiben?«
»Vielen Dank, nein. Schlaffeld an.« Louis schwebte von ihr weg. Aus Erfahrung hatte er Anlaß zu befürchten, es würde jetzt zu einer Schimpfkanonade kommen, aber das ließ sich nicht ändern. Falls sie Gewalt anwendete, würde sie sich im freien Fall befinden.
Aber sie überraschte ihn, indem sie sagte: »Luweewu, es wäre schrecklich für mich, wenn ich jetzt ein Kind empfange.«
Er blickte auf ihr Gesicht hinunter: es war nicht wütend, sondern sehr ernst. Sie sagte: »Wenn ich mich jetzt mit Kawaresksenjajok verbände, brächte ein Baby zur Welt, das im Inferno einer verglühenden Sonne sterben muß.«