Die Geschwindigkeit der Heißen Nadel war recht beachtlich. Das Land vor ihnen wurde schon wieder grün. Die Flüsse zogen sich wie silberne Fäden durch die Landschaft.
»Bei unserer ersten Expedition flogen wir mit doppelter Schallgeschwindigkeit. Mit Flugrädern«, erklärte Louis. »Damit würden wir acht Tage brauchen, ehe ich die Transportscheiben benützen könnte. Tanj. zu lang. Ich vermute, daß die Meteor-Verteidigungsanlage auf Objekte schießt, die sich relativ zu der Oberfläche der Ringwelt sehr schnell bewegen. Aber wie schnell ist sehr schnell?«
»Das findet man am einfachsten heraus, wenn man so lange beschleunigt, bis etwas passiert.«
»Ich kann nicht glauben, daß ein Pierson-Puppetier so etwas laut aussprechen würde.«
»Du solltest mehr Zutrauen zu der Ingenieurkunst der Puppetiers haben, Louis. Das Stasisfeld wird funktionieren. Keine Waffe kann uns im Stasisfeld etwas anhaben. Im schlimmsten Fall kehren wir in den normalen Zustand zurück, nachdem wir auf der Ringoberfläche aufschlagen, und dann setzen wir unsere Reise eben mit einer langsameren Geschwindigkeit fort. Es gibt eine Hierarchie von Risiken, Louis. Das Schlimmste, was wir in den nächsten zwei Jahren tun können, ist Versteck spielen.«
»Ich tue es nicht — um auch Chmeee zu zitieren; aber ein Pierson-Puppetier. ich muß das erst verdauen.« Louis schloß die Augen und versuchte nachzudenken. Dann: »Mal sehen, wie das klingt. Zuerst holen wir die beschädigte Sonde zurück, die wir auf dem Bibliotheksdach zurückließen.«
»Ich bewegte sie bereits.«
»Wohin?«
»Auf den uns am nächsten liegenden hohen Berg, dessen Gipfel aus freigelegtem Scrith-Material besteht. Das ist der sicherste Standort für die Sonde. Jedenfalls fiel mir kein besserer ein. Die Sonde ist immer noch von Wert, obgleich sie jetzt keinen Treibstoff mehr zu produzieren vermag.«
»Das ist ein guter Standort, ja. Aber bewege sie nicht von der Stelle. Schalte nur alle Sensoren an Bord der Sonde, der Heißen Nadel und des Landungsbootes ein. Richte die meisten von ihnen auf die Schattenblenden. Wo sonst könnten sich noch Kanonen der Meteor-Verteidigungsanlage befinden? Wir müssen von der Überlegung ausgehen, daß offenbar keine dieser Kanonen in der Lage ist, unter den Boden der Ringwelt zu schießen.«
»Sicher. Trotzdem wüßte ich nicht, wo die Dinger sonst noch stehen könnten.«
»Okay. Wir richten alle Kameras auf den Ringweltboden. Kameras auf die Sonnenblenden. Kameras auf die Sonne. Kameras auf die Weltkarte von Kzin und von Mars.«
»Gut.«
»Wir bleiben auf einer Flughöhe von tausend Meilen. Sollen wir die Sonde aus dem Laderaum katapultieren und sie mit automatischer Steuerung dem Raumschiff folgen lassen?«
»Unsere einzige Kraftstoffreserve? Nein.«
»Dann beschleunige das Raumschiff, bis etwas passiert. Wie klingt das?«
»Aye, aye«, sagte der Hinterste und wandte sich wieder seiner Konsole zu. Und Louis, der sich gerne noch länger mit ihm unterhalten hätte, um seine Nerven zu beruhigen, schwieg still.
Die Kameras fingen es ein, aber keiner von den Passagieren der Heißen Nadel bemerkte es. Auch wenn sie nach oben gesehen hätten, würden sie es nicht bemerkt haben. Sie hätten nur gleißend weiße Sterne und das gemusterte blaue Band der Ringwelt vor dem schwarzen Universum gesehen, und ein schwarzer Kreis am Gipfel des Ringweltbogens, wo der Schutzanstrich der Heißen Nadel den Lichteinfall der nackten Sonne wie ein Spiegel reflektierte.
Aber sie blickten nicht einen Moment hinauf zur Decke der Raumschiffkabine.
Unter ihnen, teilweise verdeckt durch das Wrack des Hyperdrive-Motors, war das Land ein lebendiges Grün. Dschungel, Sümpfe und unkultivierte Grünflächen überwogen. Hin und wieder entdeckten sie ein unregelmäßiges, wirres Steppmuster im Urwald, wo ein Farmer das Land unter den Pflug genommen hatte. Bisher hatten sie unter den Hominiden der Ringwelt nicht sehr viele Bauern angetroffen.
Sie sahen kleine Flottillen von Booten auf flachen Seen. Einmal überflogen sie ein Spinnennetz von Straßen, eine halbe Stunde im Durchmesser, was ungefähr siebentausend Meilen bedeutete. Das Teleskop zeigte ihnen Ochsen, die als Reittiere verwendet wurden oder kleine Karren zogen. Nicht ein Fahrzeug wurde von einem Motor angetrieben. Hier war nach dem Untergang der Städtebauerkultur keine neue Technik entstanden.
»Ich komme mir vor wie eine Göttin«, sagte Harkabeeparolyn. »Niemand sonst auf dieser Welt hat so einen gewaltigen Ausblick.«
»Ich kannte eine Göttin«, sagte Louis. »Wenigstens glaubte sie, eine Göttin zu sein. Auch sie gehörte zu den Städtebauern. Früher war sie ein Besatzungsmitglied auf einem Raumschiff gewesen; von ihrem Raumschiff aus sah sie, was du jetzt siehst.«
»Ah.«
»Laß es dir nicht zu Kopf steigen.«
Der Berg »Faust Gottes« schrumpfte allmählich zusammen. Der irdische Mond hätte in diesem gewaltigen Kegel Platz gefunden. Man mußte diesen Berg aus so großer Entfernung sehen, vor einer Landschaftskulisse, die größer war als die bewohnbare Oberfläche aller Welten des bekannten Universums, um seine Größe richtig einschätzen zu können. Louis fühlte sich nicht wie ein Gott. Eher wie ein Zwerg. Schrecklich verletzlich.
Der Deckel des Autodock an Bord des Landungsbootes hatte sich noch nicht bewegt. Louis fragte: »Hinterster, könnte Chmeee noch andere Verletzungen erlitten haben?«
Der Puppetier befand sich nicht im Blickfeld, doch seine Stimme klang klar und deutlich: »Möglich.«
»Dann könnte er in dieser Kiste sterben.«
»Nein. Louis, ich bin beschäftigt. Störe mich jetzt nicht!«
Das Teleskopbild sah verwaschen aus. Das sonnenbeglänzte Land, das tausend Meilen unter ihnen lag, schien sich zu bewegen. Die Geschwindigkeit der Heißen Nadel hatte fünf Meilen pro Sekunde überschritten. Das war die Umlaufgeschwindigkeit der Erde.
Wolkendecken schimmerten so hell, daß die Augen schmerzten. Achteraus löste sich das Schachbrettmuster einer Ackerbauprovinz in grünen Schlieren auf. Direkt unter ihnen neigte sich das Land nach unten, ging dann in eine gerade Fläche über, wurde zu einer flachen, Hunderte von Meilen breiten Prärie. Soweit das Auge reichte, konnte man nur eine baumlose Grasvegetation erkennen. Flüsse, die sich in diese Prärie ergossen, wurden zu Sümpfen und nahmen grüne Farbe an.
In der Ferne tauchten jetzt die geschwungenen oder gezackten Linien von Meereszungen, Buchten, Halbinseln und Inseln auf: Die Markierung der Meeresküste, reich gegliedert, damit sich Häfen und die Schiffahrt entwickeln konnten. Aber das war die Küste, die nach spinnwärts zeigte. Unter ihnen lag nun eine flache, salzvergiftete Landschaft. Hunderte von Meilen dahinter eine blaue Linie, die Wassergrenze des Ozeans. Louis spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken senkrecht stellten, als er sich den Meteoreinschlag vorstellte, dem die »Faust Gottes« ihre Entstehung verdankte. Sie waren inzwischen ein beträchtliches Stück von diesem Berg entfernt, doch die Wirkung des Einschlages hatte auch den Großen Ozean beeinflußt. Er hatte die Küstenlinie angehoben, so daß das Meer sieben- oder achthundert Meilen von seiner ursprünglichen Wasserlinie zurückgewichen war.
Louis rieb sich seine geblendeten Augen. Es war viel zu hell dort unten. Da waren violette Blitzlichter.
Dann Tintenschwärze.
Louis schloß seine Augen ganz fest. Als er sie wieder öffnete, war ihm, als hätte er sie nie geschlossen: es war so schwarz wie im Bauch eines Walfisches.
Harkabeeparolyn schrie. Kawaresksenjojak schlug um sich. Er traf Louis an der Schulter. Dann klammerte sich der Junge mit beiden Händen an Louis' rechten Arm. Der Schrei der Frau riß plötzlich ab. Dann sagte sie mit klappernden Zähnen: »Luweewu, wo sind wir?«