Langsam ließ ich den Blick über die Gesichter der versammelten Jungen schweifen. Für einen Augenblick vergaß ich, dass ich hier mitten im Geschehen war, und betrachtete die Situation wie ein Unbeteiligter, gleichsam von außen: der riesige Saal aus rosa Marmor; die hohen, von Finsternis geschwärzten Fenster, auf denen Rinnsale des vom Sturm gepeitschten Meerwassers mäanderten; die züngelnden Fackeln an den Wänden; das knisternd lodernde Kaminfeuer; darüber der scharlachrote Schild,
Die Tür quietschte, und mit einem Schlag kehrte Stille ein. Rita stand in der Tür und war auf der Schwelle erstarrt, als hätte sie Angst einzutreten.
»Kostja ist gestorben«, sagte sie leise.
Niemand sprang auf, keiner sagte ein Wort. Wir hatten alle bereits den ganzen Abend damit gerechnet, dass dies geschehen würde. Das Schweigen war so beklemmend, dass ich es nicht länger ertrug. Wie von Sinnen rannte ich zur Tür, rempelte Rita zur Seite und stürzte in den Gang hinaus, nach links, die Treppe hinunter zur Tür, die ins Freie hinausführte: verschlossen. Planlos lief ich wieder zurück nach oben, schlüpfte in einen engen Durchgang, der in einen stockdunklen gewundenen Korridor führte, in dem keine zwei Leute aneinander vorbeigepasst hätten, und gelangte schließlich an eine steile Wendeltreppe, die ich hinaufstürmte, immer weiter hinauf, bis ich unvermittelt vor einer weiteren Tür stand.
Als ich sie aufstieß, schlug mir heulender Wind entgegen, und Regen peitschte mir ins Gesicht. Alles war in Dunkelheit gehüllt: das Meer, die Insel und weit unten die wuchtigen Gemäuer der Burg. Im Getöse des aufgewühlten
Gegen den Wind ankämpfend, tastete ich mich voran, stieß auf eine gemauerte Brüstung und machte mich gerade daran, darüber hinwegzuklettern, als ein Blitz vom Himmel zuckte und nicht weit von der Burg einen grellweißen Strahl ins Meer rammte. Im selben Moment tat es einen ohrenbetäubenden Knall, als sei der Himmel explodiert. Ein Bein hatte ich schon über die Brüstung geschwungen, und beinahe wäre ich vor Schreck in die Tiefe gestürzt, wo die Wellen schäumend gegen die Mauern schlugen.
Der Blitz verlosch, und mit einem Mal schien es noch viel finsterer zu sein als zuvor. Mit wild pochendem Herzen krampfte ich mich an der Brüstung fest und wusste einen Moment lang nicht, in welche Richtung ich zurückklettern musste. Da fasste mich jemand an den Schultern und zog mich auf die Plattform zurück.
»Lass das, Dima, beruhige dich«, flüsterte Toliks Stimme direkt an meinem Ohr.
Noch immer hielt er meine Schultern fest im Griff, als
»Lass mich los, Tolik!«, sagte ich etwas unwirsch.
»Einen Teufel werde ich tun, wer weiß, vielleicht willst du ja zum Verrückten Kapitän.«
»Ich will zu überhaupt niemandem.«
»Und warum bist du dann abgehauen, wenn ich fragen darf?«
Nun brach meine ganze Verwirrung heraus und mit ihr das schreckliche Gefühl der Verlassenheit, das meine Seele beherrschte. »Tolik, ich halte es nicht aus mit diesen Typen! Das sind doch keine Menschen, sondern Roboter. Sie zucken noch nicht einmal mit der Wimper, wenn einer nach dem anderen ins Gras beißt. Du bist der einzig Normale in dem ganzen Haufen.«
»Das ist nicht wahr, Dima. Wir sind alle normale Menschen, und ich bin keinen Deut besser als die anderen. Es ist schon richtig, dass sie versuchen, die Haltung zu bewahren, wenigstens voreinander. Du solltest dir hier ein dickes Fell zulegen, sonst kommst du nicht weit.« Tolik sprach mit ruhiger Stimme auf mich ein. »Es ist nun mal nicht zu ändern, dass wir hierher geraten sind, wir müssen einfach das Beste daraus machen. Es kommt ja auch nicht jeden Tag so schlimm wie heute. Manchmal vergehen Monate, ohne dass jemand getötet wird. Und die Neuen, die ankommen, bringen auch immer wieder frischen Wind rein. Wir hatten mal einen Geiger hier - Mann, konnte der spielen!«
Toliks Worte überzeugten mich nicht wirklich, denn was er sagte, stimmte nur vor dem Hintergrund der perversen Regeln, die auf den Inseln herrschten. Was war
Trotz allem reifte in mir die Erkenntnis, dass mein innerer Widerstand gegen diese Welt zwecklos war. Während ich so neben Tolik stand und mich unwillkürlich an ihn drängte, als wäre er älter als ich und könnte mich vor irgendetwas beschützen, begann ich langsam, mich ein wenig zu beruhigen.
Mir war noch nicht danach zumute, in die Wärme und ins Licht der Burg zurückzukehren. Ein paar Minuten brauchte ich noch, um wieder völlig zu mir zu kommen.
»Von welchem Verrückten Kapitän hast du vorhin gesprochen?«, fragte ich.
»Stimmt, du konntest ja gar nicht wissen, von wem ich rede«, sagte Tolik nachdenklich. »Ist dir nicht kalt?«
»Nein.«
»Dann warten wir noch den nächsten Blitz ab. Schau einfach aufs Meer hinaus und hör mir zu, ich erzähle dir was.«
Als Tolik mit seiner Geschichte begann, nahm seine Stimme einen beinahe ehrfürchtigen Ton an. »Der Verrückte Kapitän ist ein Junge wie du und ich. Genauer gesagt, das war er. Auch ihn verschlug es auf eine der Inseln, wo er viele Jahre lebte und zu einem ausgewachsenen Kerl heranwuchs. Er war ein mit allen Wassern gewaschener Schwertkämpfer, und man sagt, dass er durchaus eine Chance gehabt hätte, mit seinen Leuten alle vierzig Inseln zu erobern. Doch das wollte er nicht, denn er hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Inselbewohner zu retten. Deshalb baute er zusammen mit den Jungen von seiner
Tolik verstummte. Der Wind, der für ein paar Augenblicke nachgelassen hatte, heulte markerschütternd auf und peitschte uns mit neuer Kraft den Regen ins Gesicht.
»Es geht da so ein Gerücht«, schrie Tolik mir ins Ohr. »Wenn man bei einem starken Sturm ins Wasser fällt, wird man vom Schiff des Verrückten Kapitäns aufgesammelt. Wenn man nur wüsste, ob das stimmt.«
Natürlich stimmte das nicht! Und Toliks Geschichte war nichts weiter als ein schönes Märchen, nämlich die Legende vom Fliegenden Holländer in etwas abgewandelter Form. Das wollte ich Tolik gerade sagen, kam aber nicht mehr dazu, da im selben Moment erneut ein vieladerig verzweigter Blitz über den Himmel loderte und ich in seinem toten Licht den sagenhaften, unmöglichen und dennoch gespenstisch echten Klipper des Verrückten Kapitäns erblickte. Irgendwo zwischen uns und der Insel Nr. 30 schoss er mit dick aufgeblasenen Segeln, vom Sturm fast in die Waagrechte gedrückt, über die sich aufbäumenden Wellen dahin.
Der Blitz verlosch. Das Meer, die Wellen und das Schiff des Kapitäns wurden von undurchdringlicher Finsternis verschluckt.
Eine Halluzination, dachte ich, wie bei einem Psychopathen. Aber war es ein Wunder, dass man auf dieser bescheuerten Insel zu spinnen begann?
»Glück gehabt«, sagte Tolik mit gedämpfter Stimme. »So nah habe ich ihn noch nie gesehen.«
11
DER RAPPORT DES BEOBACHTERS NR. 36
Ich konnte nicht schlafen. Ein anderer hätte vielleicht einfach den Schalter umgelegt und sich in den Schlaf sinken lassen. Warum auch nicht, die Geschehnisse des Tages waren ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen. Leider bin ich völlig anders gestrickt: Bevor ich einschlafen kann, muss ich immer erst meine Gedanken ordnen und einen gewissen Frieden mit mir selbst finden.
Damit scheiterte ich in dieser Nacht grandios. Irgendetwas wühlte mich auf, ich kam nur nicht dahinter, was es war. Vielleicht der Tod der Jungen - Igor, Kostja? Nein. Der Streit zwischen Sershan und Tolik? Nein. Der Verrückte Kapitän? Das war es auch nicht. Der morgige Tag? Nein.
Was war es nur, was mich so umtrieb? Es waren wohl doch die getöteten Jungen, und zwar weniger die Tatsache, dass sie im Kampf starben, als der Umstand, dass ich an ihrer Stelle hätte sein können. Das war es! Chris hatte mich im allerletzten Moment auf die andere Brücke geschickt, als ob er gewusst hätte, was passieren würde! Plötzlich kam mir der Gedanke, dass die Feinde vor allem auf Jungen in meinem Alter Jagd zu machen schienen. Sie hatten nicht einmal versucht, auf Timur zu schießen, obwohl es logischer gewesen wäre, den ältesten und erfahrensten Kämpfer des Gegners als Ersten auszuschalten. Das war natürlich ein dummer Gedanke, warum hätte jemand ausgerechnet auf mich Jagd