»Who are you?«, fragte der Junge leise und sah mir dabei fest in die Augen.
Tanja fing zu kichern an. Ich versetzte ihr einen strengen Blick und sagte: »Klarer Fall, das ist ein Engländer. Da müssen wir auf Chris warten.«
Wenn ich gewusst hätte, womit Chris gerade beschäftigt war, hätte ich nicht im warmen Sand der Insel Nr. 36 auf seine Rückkehr gewartet, sondern wäre auf schnellstem Wege zu ihm geeilt. Erst am Abend jedoch erzählte mir Meloman, was während ihres Wachdienstes passiert war.
Auf der Südbrücke hatte schon seit dem frühen Morgen eine sehr angespannte Stimmung geherrscht. Chris und Meloman hatten sich dorthin zur Wache aufgemacht und auf einen ruhigen Tag ohne lästige Scharmützel oder gar ernsthafte Gefechte gehofft.
Dass es ungemütlich für sie werden könnte, erkannten sie gleich bei ihrer Ankunft, denn die Insel Nr. 24 hatte fünf Kämpfer auf die Brücke entsandt. Wenn diese auch ursprünglich keinen Angriff geplant hatten, so war ihr zahlenmäßiges Übergewicht doch eine große Versuchung. Zunächst hielt sie nur die Anwesenheit von Chris von einem Angriff ab, denn sie kannten ihn gut und waren nicht gerade erpicht darauf, sich mit ihm anzulegen.
Aber im Lauf der Zeit stachelten sich die fünf von der Nr. 24 mehr und mehr gegenseitig auf und rotteten sich schließlich bedrohlich nahe an der Brückengrenze zusammen. Chris blickte immer wieder zur Burg hinunter in der Hoffnung, dass Hilfe käme. Auf dem Wachturm war Rita eingeteilt, sie hätte eigentlich wissen müssen, dass ein Kräfteverhältnis von fünf gegen zwei eine ziemlich brenzlige Angelegenheit war. Die Brücke blieb jedoch verwaist.
Chris konnte nicht wissen, dass Rita zur selben Zeit zusammen mit mir und den jüngeren Mädchen um einen Neuankömmling herumstand, der sich an seine Sporttasche klammerte und immer wieder entgeistert die Burg anstarrte, obwohl wir ihm mit einigen mühsam aus dem Gedächtnis zusammengeklaubten Brocken Englisch und mit Händen und Füßen klarzumachen versuchten, dass er sich nicht zu fürchten brauchte.
Die Insel Nr. 24 wollte sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Ein hoch aufgeschossener, kräftiger
»Eins gegen eins?«, fragte er.
Der lange Kerl nickte. Chris wusste nur zu gut, dass seine Chancen schlecht standen. Seinen Gegner kannte er seit vielen Jahren. Der war schon ein erfahrener Schwertkämpfer gewesen, als Chris erst auf die Insel kam. Er tauchte nicht oft auf der Südbrücke auf, aber wenn, dann verhieß das nichts Gutes. Im Übrigen war er schlichtweg stärker als Chris.
Einen kurzen, kehligen Schrei ausstoßend, sprang der Lange nach vorn. Chris wich ihm aus und versuchte, ihn von der Seite zu treffen. Mühelos wehrte sein Kontrahent den Schlag ab und sprang zurück.
»Super, Genka!«, rief einer der Jungen hinter ihm.
Genka grinste und stürzte erneut nach vorn. Nach kurzer Zeit hatte Chris herausgefunden, mit welcher Taktik Genka kämpfte: Er setzte einen Hieb und zog sich dann blitzschnell zurück. Ein begnadeter Fechtkünstler war er zwar nicht, aber allein seine rohe Kraft machte jede seiner Attacken lebensgefährlich. Zudem verstand er es glänzend, gegnerischen Schlägen mit katzenhafter Geschmeidigkeit auszuweichen.
»Komm, ich lös dich mal ab«, rief Meloman nach einiger Zeit von hinten.
Chris gab ihm nicht einmal eine Antwort. Dies war sein Kampf. Meloman hätte ohnehin nicht die geringste Chance gehabt, die Hiebe des Langen zu parieren.
»Genka, Genka!«, brüllten seine vier Gefährten zur Anfeuerung … nein, es brüllten nur drei; aus dem Augenwinkel bemerkte Chris, dass einer von ihnen schwieg.
»Gib’s den Sechsunddreißigern! Mach sie nieder, die Rotschildler! Vorwärts, Genka, hau zu!«, schrien die Feinde immer fanatischer.
Allmählich verließen Chris die Kräfte. Seine Finger wurden taub und konnten den schweißnassen Schwertgriff nur noch mit Mühe halten.
»Genka! Genka! Genka!«, johlte das feindliche Publikum.
Chris stemmte sein Schwert gegen einen auf ihn herabzischenden Schlag von Genka, dessen Klinge Funken sprühend an seiner Schwertschneide entlangschrammte und ihn mit kaum gebremster Wucht in den Unterarm traf. Eine klebrige Wärme umfloss Chris’ Hand, während brennender Schmerz in ihm aufstieg und sein Schwert zu Boden fiel. Rasch hob er es mit der Linken auf und wich, praktisch kampfunfähig, zurück. Damit war sein Ende besiegelt.
Zu Chris’ Überraschung hielt Genka inne. Was sollte das bedeuten? Würde er ihn womöglich verschonen, so wie Dima das zurückgebliebene Mädchen von der Nr. 24 vor einiger Zeit verschont hatte?
»Hey, ihr Küken«, plärrte Genka, sich zu den Seinen umwendend. »Wer gibt ihm den Rest? Vielleicht du, Inga?«
Inga hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt, doch Chris wusste sofort, dass sie das Mädchen von damals war. Das war auch der Grund dafür, dass sie Genka nicht angefeuert hatte. Langsam und unsicher ging das Mädchen auf Chris zu, der einfach ruhig stehen blieb.
»Ihr Schwert ist aus Holz!«, platzte Meloman im Rücken
Alle hatten es hören können, auch die Feinde, und natürlich auch Inga, die jetzt unvermittelt herumfuhr und sich Genka zuwandte.
»Verteidige dich!«, fauchte sie ihn an. Gegenüber dem muskulösen Genka sah das vierzehnjährige Mädchen mit den dunklen Haaren und großen Augen noch zerbrechlicher aus als zuvor. Ihr »Verteidige dich« klang eher flehentlich als drohend.
»Du Miststück!«, polterte Genka. »Dann stimmt es also …«
Er stieß einen unflätigen, garstigen Fluch aus, wie es Chris bei seinen Leuten niemals geduldet hätte, und holte zu einem gewaltigen Schlag aus, mit dem er auch einen Erwachsenen in der Mitte hätte durchhauen können.
Doch er war zu langsam. Inga hatte ihr Schwert zwar etwas ungelenk und mit beiden Händen, aber flink nach vorn gestoßen und es ihm in den Leib gerammt.
Mit beiden Händen umfasste Genka die in seinem Bauch steckende Klinge und sah das kleine Mädchen mit entgeistert rollenden Augen an. Inga wurde blass und machte einige Schritte rückwärts, wobei sie Genka das blutüberströmte Schwert aus dem Bauch zog und ihm die Hände zerschnitt.
»Verdammtes Luder! Bringt sie beide um!«, schnaubte Genka mit heiserer, brechender Stimme und sank auf die Knie.
Inga stieß rücklings gegen Chris und erstarrte. Noch immer hielt sie krampfhaft das nach vorn gestreckte Schwert in der Hand, starrte mit weit aufgerissenen Augen zu dem schwer getroffenen Hünen hinüber und zitterte
»Du weißt, dass ein Überläufer nicht mehr auf die Erde zurückkehren kann, auch wenn seine Insel den Sieg erringt?«, fragte Chris.
»Was? … Ja, weiß ich«, erwiderte Inga und sackte im gleichen Augenblick in sich zusammen. Kraftlos fiel sie in Chris’ Arm, aus dessen Wunde ein pulsierender, bohrender Schmerz schoss und seinen ganzen Körper durchfuhr.
»Kommt, ziehen wir uns zurück«, zischte Chris mit zusammengebissenen Zähnen und schleifte Inga zusammen mit Meloman, der ihm zu Hilfe geeilt war, davon.
Zurück blieb der auf dem Boden zusammengekrümmte Genka, dessen Gefährten so verdutzt waren, dass sie bis zuletzt unfähig waren, sich zu rühren, geschweige denn irgendetwas zu unternehmen. Erst jetzt kümmerten sie sich um ihren übel zugerichteten Anführer und schleppten ihn von dannen.
2
DIE ENTTARNUNG
Dass ich nach meiner Ankunft auf der Insel ein ebenso dummes Gesicht gemacht haben soll wie Tom, halte ich für ein böswilliges Gerücht. Den Namen unseres Neuankömmlings zu erfahren, erwies sich als äußerst zähes Unterfangen. Erst nachdem wir einige Dutzend Male gebetsmühlenhaft »What is your name?« wiederholt hatten und uns schon völlig albern vorkamen, verriet er uns schließlich, dass er Tom hieß.