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Als wir ihn in die Burg führen wollten, blieb er bockig stehen und weigerte sich hineinzugehen. Wir konnten also nichts anderes tun, als Tom draußen vor der Burg mit unserem katastrophal schlechten Englisch zu malträtieren. Rita wusste zwar einige Wörter mehr als wir anderen, da sie viel Zeit mit Chris verbrachte, dennoch gelang es auch ihr nicht, Tom über seine Situation ins Bild zu setzen. Der schwieg entweder oder begann so hastig und verworren zu sprechen, dass wir nicht ein Wort verstanden. Außerdem kniff er sich ständig in den Arm und rieb sich immer wieder die Augen. Einerseits hatte ich ja ein wenig Mitleid mit ihm, denn ich erinnerte mich noch sehr genau, wie man sich in dieser Lage fühlte, andererseits war sein übertrieben misstrauisches und ungläubiges Verhalten zum Schreien komisch, und wenn er so weitermachte, würde er bis zum Abend mit knallroten Augen und von blauen Flecken übersät durch die Gegend laufen.

»Was ist denn hier los? Haben wir Verstärkung bekommen?«

Wie auf Kommando reckten wir alle gleichzeitig die Köpfe. Auf der Südbrücke stand, lässig aufs Geländer gestützt, Chris und sah grinsend zu uns herab. Er hatte sich bis zum Gürtel ausgezogen, und als ich das um seinen rechten Arm gewickelte, blutverquollene T-Shirt sah, wurde mir klar, dass er das nicht getan hatte, um knackig braun zu werden. Als Rita Chris’ Verwundung bemerkte, schüttelte sie vorwurfsvoll den Kopf, stieß einen gedehnten Seufzer aus und lief zum Burgtor. Eilig folgte ich ihr, denn wenn Meloman allein auf der Brücke zurückgeblieben war, musste ihm schleunigst jemand zu Hilfe kommen. Die Seelenruhe, mit der Chris über der Balustrade lehnte, ließ allerdings nicht vermuten, dass Meloman in großer Gefahr schwebte.

Rita machte sich sogleich daran, Chris’ Wunde zu verbinden. Wo sie auf einmal Verbandszeug und Wundsalbe hergezogen hatte, war mir ein Rätsel. Schleppte sie die Sachen etwa ständig in der Tasche ihres Kleides mit sich herum?

»Soll ich zur Südbrücke rauf?«, fragte ich, als ich bei den beiden ankam.

Chris zuckte mit den Achseln. »Wie du willst. Meloman schafft das aber auch allein, die Feinde haben sich schon verzogen«, erwiderte er betont lässig und warf mir einen eigenartigen Blick zu, der einerseits ein wenig spöttisch war, als amüsierte er sich über meinen Eifer, andererseits aber auch anerkennend, als hätte ich etwas für mein Alter Außergewöhnliches vollbracht.

»Wir haben einen Neuen«, sagte ich.

Chris nickte.

»Ein Engländer oder Amerikaner«, ergänzte ich.

Unser Anführer war bester Laune. »Gleich zwei an einem Tag? Nicht schlecht!«, sagte er munter. »Rita, beeil dich mit dem Verbinden.«

»Warum zwei?«, erkundigte sich Rita, während sie den Verband fixierte. »Zählen englischsprachige Kämpfer im Gefecht neuerdings doppelt?«

Chris lachte laut auf und zog seine Hand zurück. Mit der freien Linken und mit den Zähnen begann er den Verband fester zu ziehen. »Zu lasch gebunden, Rita. Der Verband muss völlig straff sitzen, dann zieht die Salbe schneller ein«, moserte er, bevor er auf Ritas Frage einging. »Im Gefecht sind alle gleich, sogar manche Mädchen können gut kämpfen. Wenn Sie die Güte hätten, sich mal dorthin umzusehen, Miss Spitze-Zunge«, sagte er ironisch und deutete mit dem Daumen hinter sich.

Rita und ich drehten synchron die Köpfe. Ich spürte, wie mein Gesicht sich unwillkürlich zu einem breiten, glücklichen Lächeln auseinanderzog; auf dem Sims eines der auf den Wehrgang hinausführenden Fenster hockte Inga und sah mich unverwandt an, während sie mit beiden Händen ihre zerzausten Haare in Ordnung brachte.

»Du?«, stammelte ich.

»Nein, mein Schatten.«

»Kennt ihr euch?«, fragte Rita erstaunt.

»Ähm … tja, also...«, druckste ich verlegen herum, denn wir hatten ja ausgemacht, unsere Bekanntschaft geheim zu halten.

Da schaltete sich Chris ein. »Ihre erste Frage war, ob dir etwas passiert sei, Dima.«

Inga lief feuerrot an.

Rita kümmerte sich nicht weiter darum. »Dann hast

Chris war inzwischen zur Treppe gegangen. Im Hinuntergehen rief er: »Rita, darüber, dass die beiden sich kennen, sprechen wir besser nicht, okay?«

Rita nickte schweigend und ging zu Inga hinüber.

»Bist du verletzt?«

Ingas hellgelbe Bluse war mit eingetrockneten rotbraunen Flecken durchwirkt.

»Nein, das ist nicht mein Blut.«

Ich kam mir etwas überflüssig vor, denn die beiden Mädchen ignorierten meine Anwesenheit vollständig. Wie zwei alte Freundinnen standen sie beieinander und steckten die Köpfe zusammen.

»Du wirst sehen, auf unserer Insel ist es sehr schön. Wir sind vier Mädchen, jetzt sogar fünf. Tanja ist zwölf, Lera zehn, und Olja ist noch ganz klein. Wart ihr drüben auch so viele Mädchen?«

»Nein, zu dritt. Lorka, Aina und ich.«

Rita nickte mitleidig. »Verstehe. Komm, wir gehen zu mir, dann kannst du dich umziehen, und deine Bluse waschen wir aus.«

»Gern, danke«, pflichtete Inga geschäftig bei.

Verdutzt starrte ich den davoneilenden Mädchen hinterher. Dass die sonst eher schweigsame Rita auf einmal gesprächig geworden war, war ja noch irgendwie verständlich. Aber wie die normalerweise eher spröde Inga hier das brave Mädchen spielte und gehorsam zu Rita aufsah wie eine Erstklässlerin zu ihrer Lehrerin, das war einfach unfassbar.

Als ich die Mädchen einholte, hatten sie bereits die

»Am Abend, Dima, am Abend«, fertigte mich Inga ab, und dann streckte sie mir noch blitzschnell die Zunge heraus, ehe sie mit Rita in der Burg verschwand.

Ich stöhnte genervt und beschloss verärgert, nicht länger hinter ihnen herzulaufen, sondern das Gebäude auf einem anderen Weg zu betreten.

Inga konnte mir zürnen, so viel sie wollte, es war mir einfach nicht möglich gewesen, zu dem Treffen mit ihr zu kommen.

Es stellte sich heraus, dass Tom Australier war. Als ich in den Thronsaal hinunterkam, war Chris gerade dabei, den auf einmal wieder erstaunlich schweigsamen Mädchen seine Geschichte zu übersetzen.

Tom war wohl der Einzige, der den Außerirdischen für seine Entführung dankbar sein musste. Er war nämlich »fotografiert« worden, als er gerade aus dem siebten Stock eines Hochhauses fiel. Wie er es geschafft hatte, aus dem Fenster zu fallen, erwähnte er nicht. Stattdessen schilderte er wortreich seine Gefühle in jenem Moment, als er unter sich anstelle des bedrohlichen Asphalts eine tropische Insel erblickte. Verlegen fügte er hinzu, dass sein erster Gedanke war, er müsse wohl im Paradies gelandet sein.

Nachdem Chris Toms Mutmaßung über das Paradies übersetzt hatte, fing er wiehernd zu lachen an, verzichtete jedoch darauf, Tom auseinanderzusetzen, wie herzlich wenig die »tropische Insel« mit dem Paradies gemein hatte. Man hatte es sich offenbar zur Regel gemacht, die Neuankömmlinge nicht sofort mit all den Schrecken zu

Währendich den jungen Australier so betrachtete, wie er allmählich auflebte und uns neugierig über die Insel und die »magischen« Brücken ausfragte, kam mir der bizarre Gedanke, dass sein Doppelgänger - oder besser gesagt: der richtige Tom - keineswegs auf Sand, sondern auf dem Asphalt gelandet war und keine Salbe seine Wunden würde heilen können. Wir anderen hatten ja wenigstens noch den zweifelhaften Trost, dass unser Doppelgänger auf der Erde weiterlebte. Tom dagegen gab es nur noch in einfacher Ausfertigung, und die war nun hier auf der Insel.

Bis zum Abend schleiften Chris und ich Tom durch die ganze Burg, zeigten ihm die Räumlichkeiten und eröffneten ihm scheibchenweise immer neue Details über das Große Spiel. Bei Einbruch der Dämmerung wusste er bereits über alles Bescheid. Zu meinem Erstaunen reagierte er ziemlich gelassen auf seine neue Lage, möglicherweise nahm er unsere Erzählungen einfach nicht ernst.

Während unserer Burgführung liefen wir einige Male Rita und Inga über den Weg. Mit gelangweilten Mienen stolzierten die beiden Mädchen jedes Mal an uns vorbei und fingen dann hinter unserem Rücken zu kichern an. Als ich Chris ansah, bemerkte ich, dass ihm ein Grinsen im Gesicht stand. Auch er amüsierte sich über die Situation, nur ich fand absolut nichts Komisches daran.