Am Wehrgang an die Mauerbrüstung gelehnt, warteten Chris, Tom und ich darauf, dass die anderen Jungen von der Wache zurückkehrten. Als Erster kam Meloman zurück. Überrascht musterte er Tom und versuchte, ihm etwas auf Englisch zu sagen. Als er keine Worte fand, lachte
Unvermittelt zog Meloman mich zur Seite. »Hast du die Neue schon gesehen?«, fragte er flüsternd.
»Ja, wieso?«, erwiderte ich etwas irritiert.
»Hübsch, nicht?«
Dazu fiel mir erst mal nichts ein, denn ich kannte Inga schon so lange, dass ich mir darüber keine Gedanken gemacht hatte.
»Ziemlich«, antwortete ich schließlich ausweichend.
»Ja, ziemlich, das habe ich mir auch gedacht«, sagte Meloman und stülpte sich den Kopfhörer auf den Schopf. »Mist, die Kiste leiert schon wieder. Auf diesen bescheuerten Inseln lädt sich der Disc-Man nicht richtig auf, als wäre das Licht elektrisch und nicht von der Sonne.«
Diese lapidare Feststellung machte mich stutzig. »Die Sonne hier ist vermutlich nicht dieselbe wie auf der Erde«, entgegnete ich, selbst nicht ganz überzeugt von meinem Argument.
»Weiß ich doch. Aber lästig ist es trotzdem«, schloss Meloman.
Von der Ostbrücke kamen Maljok und Janusch zurück. Janusch schaute zufrieden drein, Maljok dagegen gelangweilt, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Wache ohne ernstliche Feindberührung verlaufen war.
Maljok sah mich kurz an, doch als ihn mein Blick traf, wandte er die Augen sofort wieder ab. Bisweilen überkam mich das peinigende Gefühl, dass er mich doch bemerkt haben könnte, als ich ihm damals nachts im Keller hinterhergeschlichen war.
»Wir haben Zuwachs bekommen«, teilte Chris den Rückkehrern mit.
Janusch setzte ein zögerliches Lächeln auf. »Von woher bis du ge-kom-men?«, fragte er, jede Silbe einzeln aussprechend. Meistens sagte er nicht viel, aber wenn, dann war er rührend darum bemüht, die für ihn fremden Worte absolut korrekt auszusprechen.
»Er ist Engländer«, warf Meloman ein.
»Australier«, verbesserte ich.
»Macht doch keinen Unterschied«, entgegnete Meloman mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Jedenfalls spricht er nur Englisch.«
»Komm du mal auf die Insel Nr. 18«, sagte Chris und sah Meloman mit listigen Augen an. »Dann würdest du auch Englisch sprechen, und über dich würde man sagen, dass du Türke bist.«
In diesem Augenblick erschienen auf der Westbrücke in der Ferne drei kleine Gestalten.
»Na endlich«, sagte Chris zufrieden. »Heute ist ein guter Tag.«
Am Abend stellte ich fest, dass Ingas Auftauchen wesentlich mehr Aufsehen erregte als die Ankunft von Tom. Das mochte damit zusammenhängen, dass Überläufer auf den Inseln viel seltener waren als gewöhnliche, »fotografierte« Zugänge. Vielleicht hatte es aber auch einen anderen Grund.
Nach dem Essen hatte es niemand eilig, den Thronsaal zu verlassen. Chris übersetzte uns die neuesten Nachrichten von der Erde, die Tom zu berichten wusste: Weltkrieg gab es keinen, die Vereinigten Staaten zogen ihre Truppen aus irgendeinem Land ab, aus welchem, hatte Tom vergessen. In Russland hatten irgendwelche Wahlen
Während Chris seine Unterhaltung mit Tom auf Englisch fortsetzte und Janusch, rücklings auf dem Sofa liegend, an die Decke starrte, hatten sich alle anderen nach und nach im Kreis um Inga geschart. Sie saß am Kamin, Timur hatte sich ihr gegenüber falsch herum auf einem Stuhl aufgepflanzt, die andern hockten auf umgedrehten Fässern.
Inga hatte ein komplizenhaftes Lächeln aufgesetzt und schien etwas sehr Spannendes zu erzählen, denn die Jungen lauschten wie gebannt, und ihre Augen hingen an Ingas Lippen.
Eine Weile blieb ich noch abseits stehen, dann hielt ich meiner Neugier nicht mehr stand und drängte mich auch in den Kreis der Zuhörer.
»… und Garik, das ist so ein Dürrer mit einer langen Nase, ein Kaukasier eben, der hat gesagt, es sei besser, allein gegen zwei zu kämpfen als gegen diesen Typen, der immer mit zwei Schwertern ficht …«
Timur senkte verlegen den Blick, und seine Ohren begannen zu glühen.
»… und der dicke Boris hat gesagt, wenn der mit den zwei Schwertern auftaucht, könne man nur noch seine Knochen nummerieren oder am besten gleich von der Brücke springen …«, plapperte Inga weiter.
»Inga!«, intervenierte ich spontan. »Jetzt labere doch den armen Timur nicht so zu. Bei mir ist das was anderes, ich kenne deine Geschichten ja schon, seit ich denken
Stille kehrte ein. Timur sah mich an, grinste und blickte dann ins Feuer. Inga wandte sich mir mit einem wütenden Blick zu. Meloman schüttelte den Kopf und stellte seinen Disc-Man auf volle Lautstärke, während Chris sich zu uns gesellte.
»Dann kennt ihr euch also?«, fragte Ilja begeistert. »Warum habt ihr das nicht gleich gesagt?«
Erschrocken biss ich mir auf die Zunge. Mit einem Seitenblick fahndete ich instinktiv nach Maljok und sah gerade noch, wie er durch die halb offene Tür entschwand.
»Chris!«, rief ich. »Maljok haut ab!«
Der Anführer zuckte kurz zusammen, einen Wimpernschlag später deutete er zur Tür und brüllte: »Timur! Tolik! Fangt Maljok ein!«
Alle gleichzeitig rannten wir los. Als Erster, noch vor Timur und mir, sprintete Tolik in den Gang hinaus.
3
DIE NACHT DER ENTDECKUNGEN UND DER MORGEN DER ENTSCHEIDUNGEN
Wir holten Maljok ein, als er gerade das Gatter entriegeln wollte, hinter dem sich die Kellertreppe befand. Tolik packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum.
»Hiergeblieben, Bürschchen!«, sagte er nahezu väterlich. »Wo rennst du denn hin?«
Die rötliche Flamme der am Ende des Ganges brennenden Fackel tauchte die beiden in ein flimmerndes Halbdunkel.
Maljok sah Tolik mit zu kleinen Schlitzen verengten, blitzenden Augen an und sagte leise: »Was willst du, kann ich nicht mehr hingehen, wohin ich will?«
»Kannst du wohl, aber warum läufst du davon? Und was hast du dort unten verloren?«
»Erkläre ich dir gleich«, sagte Maljok und rammte Tolik im selben Moment das Knie in die Magengrube.
Tolik krümmte sich vor Schmerz und wich einen Schritt zurück. »Du spinnst wohl!«, japste er.
Maljok hatte bereits das Gatter aufgestoßen und wollte gerade zur Treppe laufen, als er plötzlich der Länge nach auf den Boden schlug; Tolik hatte ihn mit einer sehenswerten Grätsche von hinten umgemäht.
»Du wolltest es so, Maljok. Wie kannst du nur …«, sagte Tolik fast schuldbewusst, das Gesicht immer noch schmerzverzerrt. Da traf ihn ein Fußtritt des kleinen Jungen, der sich wieselflink wieder aufgerappelt hatte, in die Rippen, und Tolik flog unsanft gegen die Wand.
Erneut spurtete Maljok in Richtung Kellertreppe, prallte jedoch an Timur ab, der sich inzwischen breitbeinig vor dem schmalen Treppengang aufgebaut hatte.
»Du hast doch gehört, dass du hier bleiben sollst«, sagte Timur mit gleichgültiger Stimme und sah den kleinen Jungen ungerührt an.
Panisch blickte Maljok sich um und sah Chris und mich hinzueilen. Der Rest stürmte auch schon den Gang entlang.
»Tim, lass mich durch!«, fiepte er verzweifelt.
»Vergiss es«, beschied ihn Timur trocken.
Da zog Maljok mit einer blitzschnellen Bewegung seinen Dolch aus dem Gürtel und stach auf Timur ein. Als wir bei den beiden ankamen, war der Kampf bereits vorbei. Maljok lag rücklings und mit ausgebreiteten Armen am Boden, als wäre er von einer Dampfwalze überrollt worden, und gab keinen Mucks mehr von sich. Timur stand, von Tolik gestützt, daneben und griff sich an die rechte Seite. An seinem zerrissenen T-Shirt trat ein kleiner roter Fleck hervor.