»Halt dich fest, Tim«, sagte Chris und fasste ihn unter der Achsel. Er und Tolik stützten den schwankenden Hünen jetzt von beiden Seiten. »Kannst du gehen?«
Die soeben herbeigeeilte Rita stieß einen gedämpften Schrei aus. Verwundungen an der Leber endeten oft tödlich, weil die Wundsalbe in diesen Fällen meistens nicht half.
»Alles in Ordnung«, presste Timur hervor und lächelte gequält. »Das ist nur ein Kratzer. Der Dolch ist zum Glück hölzern geblieben. Anscheinend wollte er mich nicht wirklich umbringen, obwohl er einen lebensgefährlichen Leberstich gesetzt hat.«
Skeptisch sah Chris sich die kleine Wunde an und schüttelte den Kopf. »Glück gehabt. Und was ist mit dem da?«, fragte er, auf den geplätteten Maljok deutend.
»Der kommt in einer Viertelstunde wieder zu sich.«
»Sehr gut.« Chris kniete sich neben Maljok hin und fesselte ihm mit einem Gürtel die Hände.
An Rita geklammert, fing Tanja leise zu weinen an. Ilja machte den Mund auf und wollte etwas sagen, ließ es dann aber doch bleiben.
»Bringt ihn in den Thronsaal«, befahl Chris, nachdem er die Fessel fest angezogen hatte, und klopfte sich angewidert die Hände ab. Tolik wuchtete Maljok über seine Schultern und trug ihn, gebückt unter der Last, schweigend davon.
»Was geht hier eigentlich vor?«, platzte Sershan auf einmal heraus und packte Chris am Handgelenk. »Wieso haben wir ihn verfolgt? Warum kam es zu diesem Kampf? Klär uns mal auf, Kommandeur. Du hattest doch angeordnet, ihn zu fassen.«
Chris sah sich nach mir um und nickte mir zu. »Erklär du es. Du weißt anscheinend mehr als ich.«
Alle starrten mich an und warteten darauf, was ich sagen würde. Meine ausgetrockneten Lippen mit der Zunge befeuchtend, setzte ich an: »Also, um es kurz zu machen: Er ist ein Spion.«
»Blödsinn!«, bellte Sershan entrüstet. »Für wen soll er denn spioniert haben? Für die Insel Nr. 24? Oder …«
»Für die Außerirdischen.«
Die jüngeren Mädchen wurden aus dem Thronsaal hinausexpediert und rigoros ins Bett geschickt. Lera und Olja machten beleidigte Gesichter, verzogen sich aber
»Inga«, unterbrach ich kurz meinen Bericht, »bist du zu unserem geplanten Treffen auf die Brücke gekommen?«
»Natürlich«, sagte sie nickend. »Viermal hintereinander«, ergänzte sie und sah mich strafend an.
Der auf dem Sofa liegende Maljok bewegte zaghaft Kopf und Arme. Er schien wieder zu sich zu kommen.
Den Blick auf ihn gerichtet, fuhr ich fort: »Na ja, und heute war’s dann so weit. Mein Treffen mit Inga auf der Brücke hatten sie sicher beobachtet, aber nicht mitbekommen, mit wem ich mich getroffen hatte. Deshalb haben sie Maljok damit beauftragt, das auszuspionieren. Vorhin hat er es herausbekommen, aber dann hat er den Fehler gemacht, sofort loszulaufen, um seinen Auftraggebern Bericht zu erstatten. Natürlich ahnte ich gleich, was er vorhat. Und Chris hat ihn auch durchschaut.«
»Ich hatte Maljok schon lange im Verdacht. Andernfalls wäre ich ein ziemlich schlechter Kommandeur«, sagte Chris und trat dicht ans Sofa heran. »Maljok, du bist schon längst wieder bei Bewusstsein. Du hast gehört, was man dir vorwirft. Was sagst du dazu?«
»Bindet meine Hände los«, bat Maljok kleinlaut.
»Kommt nicht infrage«, entgegnete Chris. »Du bist viel zu stark. Merkwürdig, nicht? Du trainierst am wenigsten,
»Ich bin eben begabt.«
»Das ist nicht der richtige Augenblick für dumme Scherze, Maljok. Ist das, was Dima erzählt hat, die Wahrheit?«
»Nein!« Maljok setzte sich auf. »Ich wollte ihn nur an der Nase herumführen, und er ist darauf reingefallen«, log er frech.
»Du Verräter!«, donnerte Chris. »Nur einen Tag nach seinem Treffen mit Inga kam es auf der Brücke, für die Dima eingeteilt war, zu dem verheerenden Angriff. Wenn ich nicht im letzten Moment umdisponiert hätte … Mir war die Geschichte mit Pawel wieder eingefallen, weißt du noch, vor zwei Jahren, als du diesen Streit mit ihm hattest? Damals warst du auch direkt nach der Wachbesprechung für eine Minute verschwunden. Und an dem Tag wurden Pawel und alle anderen, die mit ihm auf der Brücke waren, getötet. Wie viele von uns hast du ans Messer geliefert, Maljok? Kostja, Romka, Igor, Pawel …«
»Das ist nicht wahr!«, kreischte Maljok mit kalkbleichem, von Angst verzerrtem Gesicht und flüchtete sich in die hinterste Ecke des Sofas, wo er sich wie ein Igel zusammenrollte. »Chris, es war alles ganz anders! Das war nur ein blöder Zufall damals!« Auf einmal fing er erstickt zu heulen an wie ein Kleinkind und stützte den Kopf in seine gefesselten Hände.
Betreten sahen wir uns gegenseitig an, während Rita zögerlich zu ihm hinüberging.
»Das sind keine Beweise, Chris«, sagte Sershan kopfschüttelnd. »Es hätte wirklich genauso gut ein Zufall sein können.«
Chris blieb unbeeindruckt. Die Szene bot ein groteskes Bild: Auf dem Sofa lag greinend ein gefesselter Junge, über ihm loderten die Fackeln, und neben ihm stand ein hoch aufgeschossener, fast erwachsener Kerl mit kaltem, unbeirrbarem Gesichtsausdruck, verbundenem Arm und einem langen Holzschwert am Gürtel.
»Also gut, Maljok. Vielleicht irre ich mich tatsächlich. Dann schlage ich vor, dass wir jetzt alle zusammen in den Keller gehen und uns diese merkwürdige Tafel einmal genauer ansehen. Am besten, wir legen auch mal die Hände darauf und schauen, was passiert.«
»Fiesling!«, gluckste Maljok, ohne den Kopf zu heben. »Dummkopf! Dann geht doch und seht nach.«
»Kann schon sein, dass ich fies bin, Maljok. Aber ich lasse mich von dir nicht für dumm verkaufen!« Bei diesen letzten Worten hatte Chris drohend die Stimme gehoben. Im selben Moment riss er mit einer heftigen Bewegung Maljoks Kopf zurück und griff nach dem Gürtel, mit dem seine Hände gefesselt waren. »Jetzt schaut euch das an! Hat er doch glatt in zwei Minuten den halben Gürtel durchgebissen!«
»Du Schuft!«, krähte Maljok mit tränenerstickter Stimme. »Dabei habe ich dich verschont, ich habe denen nie erzählt, dass du …«
Klatschend schlug ihm Chris mit der flachen Hand ins Gesicht. »Und du wirst ihnen auch nichts erzählen! Damit ist es jetzt endgültig vorbei. Ich bin der Meinung, dass er sich verraten hat. Was meint ihr dazu?«
»Schlag ihn nicht, Chris!«, bat Timur.
»Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, Tim. Er muss uns erzählen, was er weiß, und ich habe nicht den Eindruck, dass er freiwillig den Mund aufmacht.«
»Ich sage überhaupt nichts, kein Wort!«,giftete Maljok.
»Wir bringen dich schon zum Sprechen«, drohte Chris. »Rita, Inga, ihr verlasst den Raum. Und nehmt Ilja mit.«
»Warum?«, empörte sich Ilja.
»Du bist noch zu jung, um so was mit anzusehen. Und für Mädchen ist das auch nichts.«
Chris wandte sich Tom zu, der die Geschehnisse mit verständnislosem Gesichtsausdruck verfolgt hatte, und sagte ihm etwas auf Englisch. Tom nickte und trottete hinter Ilja her aus dem Saal.
»Nimm Tom mit auf deine Kammer!«, rief Chris Ilja hinterher. »Ihr anderen könnt hierbleiben.«
»Sorry, Chris, aber ich werde mich auch besser verziehen«, sagte plötzlich Meloman, schaltete seinen Disc-Man aus und wickelte sorgfältig die Kabel seines Kopfhörers auf. »Er hat sich verraten, das stimmt. Aber ich fürchte, ich bin schon zu alt, um mit anzusehen, was hier gleich geschehen wird.«
Chris nickte etwas erstaunt und wandte sich dann wieder Maljok zu. »Also, was ist, redest du?«
Maljok schüttelte den Kopf und sah Chris angsterfüllt an.
»Wie du willst.«
»Das wirst du nicht wagen!«
»Werde ich doch«, erwiderte Chris und zog sein Schwert.
Maljok starrte die Klinge an und drehte sich entsetzt weg. Für ihn sah das Schwert wohl echt aus.
»Siehst du, ich mache ernst. Kann sein, dass ich mich hinterher selbst dafür hassen werde, aber jetzt denke ich mal ganz fest an meine toten Gefährten, an Kostja … an Igor …«