Die Klinge näherte sich Maljoks Gesicht. Unwillkürlich schloss ich die Augen, dann hörte ich Maljok vor Schmerz aufquieken.
»Hör auf, ich sag alles … alles«, winselte er.
Als ich die Augen wieder aufmachte, klaffte auf Maljoks Wange ein langer, aber harmloser Riss.
»Na also, ich verlass mich drauf«, sagte Chris und legte sein Schwert zur Seite. »Dann leg mal los.«
Entweder hatte Maljok nicht allzu viel mitbekommen, oder er erzählte einfach nicht alles, was er wusste.
Angeworben wurde er bereits einen Monat nach seiner Ankunft auf der Insel als Siebenjähriger, als er sich eines Nachts aus purer Langeweile und jugendlicher Abenteuerlust zu einem Ausflug in die nähere Umgebung der Burg aufmachte. Unterwegs verlor er plötzlich das Bewusstsein und kam in einem Raum mit »runden grauen Wänden« wieder zu sich.
Eine körperlose, nicht menschlich klingende Stimme fragte ihn, ob er bereit sei, über alle Vorgänge auf der Insel Bericht zu erstatten, und versprach ihm im Gegenzug, dass er wieder nach Hause zurückdürfe, wenn er seine Aufgabe »zur Zufriedenheit erledigen würde«. Natürlich konnte es nur eine Antwort darauf geben, und Maljok strengte sich an, alles richtig zu machen.
Der Junge hatte seine Auftraggeber nie zu Gesicht bekommen. Er kannte nur ihre immer gleich klingenden Stimmen, die zunächst aus den grauen Wänden des Raums ertönten, in dem er für mehrere Stunden festgehalten wurde, und später aus der »Steintafel«, die als Sprechanlage diente.
Mittels einer Spezialbehandlung, von der er selbst
Warum die Außerirdischen sich so brennend für mein nächtliches Treffen mit einem der Feinde interessierten, wusste Maljok nicht. Jedenfalls hatte er seinen Auftraggebern pflichtschuldig berichtet, für welche Brücke ich vorgesehen war.
Nachdem der darauffolgende Angriff nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hatte, wurde Maljok mit einem Stromstoß bestraft, wie immer, wenn seine Auftraggeber mit seiner Arbeit nicht zufrieden waren. Dafür
Maljok begann erneut zu weinen. »Ich könnte längst zu Hause bei Mama und Papa sein«, schluchzte er.
»Oooh«, machte Chris und schüttelte mitleidig den Kopf. »Was sind wir nur für gemeine Scheusale? Haben wir verhindert, dass der kleine Maljok zu seiner Mama zurückkommt? Und was glaubst du, wäre mit Dima und Inga passiert, wenn wir dich nicht aufgehalten hätten?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Du weißt es sehr wohl! Wie stellst du die Verbindung zu deinen Herren her?«
»Man presst einfach die Hände gegen die Marmortafel im Keller.«
»Wie können sie uns noch überwachen?«
»In der Burg überhaupt nicht. Sie wissen nur das, was ich ihnen berichte. Auf der Insel und auf den Brücken dagegen können sie selbst alles sehen, zumindest solange es hell ist.«
Es entstand eine kleine Pause. Tolik massierte sich das Kinn und sah Maljok misstrauisch an.
»Ich glaube, er lügt«, brummte Chris, in dessen Stirn sich zwei tiefe Furchen gegraben hatten.
»Nein, ich denke, es stimmt, was er sagt«, mischte ich mich ein. »Aus seinem Gespräch mit den Außerirdischen habe ich herausgehört, dass sie uns in der Burg nicht überwachen können.«
»Was machen wir mit ihm? Dima, Timur, Tolik«, sagte Chris und sah uns einen nach dem anderen eindringlich an.
Niemand sagte ein Wort.
Chris presste die Lippen zusammen. »Gut, dann werde ich entscheiden.«
Maljok sackte zusammen.
»Du wirst zum Tod verurteilt«, verkündete Chris. »Die Vollstreckung wird auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Timur!«
Timur stand auf und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wunde.
»Sperr ihn in dem Kerker unter dem Wachturm ein, in den mit der Eisentür und dem dicken Gitter im Fenster, du weißt schon. Danach kommst du sofort zurück.«
»Meinst du nicht, dass er türmt?«, fragte Sershan nachdenklich.
»Ausgeschlossen«, erwiderte Chris. »Ich hab dort selbst mal gesessen, vor fünf Jahren. Weißt du noch, Tim?«
»Klar«, entgegnete Timur mit breitem Grinsen und wandte sich Maljok zu. »Steh auf!«
Widerwillig erhob sich Maljok. Timur bugsierte ihn unsanft durch die Tür und ging mit ihm hinaus.
»Und jetzt«, sagte Chris mit einem Seufzer der Erleichterung, »überlegen wir uns, was zu tun ist.«
Erst gegen halb vier Uhr morgens gingen wir auseinander. Timur und Janusch löschten noch die Fackeln, während der Rest sich schnurstracks in die Kammern verzog. Angesichts der bevorstehenden Wache auf den Brücken schien es ratsam, wenigstens noch etwas zu schlafen.
Todmüde tastete ich mich im finsteren Gang an der Wand entlang, bis ich endlich die Tür zu meiner Kammer fand. Von nun an würde ich allein wohnen, was immer noch besser war, als die Nächte direkt neben einem
»Dima!«, rief jemand aus der Dunkelheit, als ich die Türklinke drückte.
Erschrocken fuhr ich herum, doch es war so finster im Gang, dass ich niemanden sehen konnte.
»Ihr habt euch so lange beratschlagt, dass ich hier fast im Stehen eingeschlafen wäre.«
»Warum bist du nicht in meine Kammer gegangen?«, fragte ich verwirrt.
Inga schwieg. Für einen Augenblick, der kein Ende zu nehmen schien, war nur das gleichmäßige Rauschen des Meeres vor den Burgmauern zu hören. Es war eine pechschwarze Nacht, selbst von den Fenstern am Ende des Gangs drang keinerlei Licht herein.
»Wir haben Maljok nicht gefoltert«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu brechen. »Er hat sich vor Angst fast in die Hosen gemacht und alles freiwillig erzählt.«
»Rita und ich haben gesehen, wie Timur ihn eingesperrt hat.«
Inga musste in unmittelbarer Nähe stehen, denn ich spürte ihren Atem auf meiner Wange.
»Rita und ich haben uns lange unterhalten, wir hatten keine Lust, schlafen zu gehen«, flüsterte sie. »Dann ist mir eingefallen, dass ich dir noch etwas sagen wollte. Am Abend hab ich doch erzählt, was Garik über Timur gesagt hat, erinnerst du dich?«
»Ja klar«, erwiderte ich und hatte nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswollte.
»Vor Kurzem hat Garik erzählt, dass noch ein Neuer aufgetaucht sei, auch so ein schlimmer Gegner, als ob uns der Samurai mit den zwei Schwertern nicht schon gereicht hätte, hat er gesagt. Damit hat er dich gemeint.«
»Tim ist kein Samurai. Er stammt aus Alma-Ata«, sagte ich und bemerkte, dass meine Ohren zu glühen begannen wie bei Timur am Abend zuvor. Gut, dass man das in der Dunkelheit nicht sehen kann, dachte ich.
»Ich muss jetzt gehen, Rita wartet auf mich.«
Wortlos blieb ich an meiner Tür stehen und lauschte, wie Ingas Schritte allmählich in der Nacht verhallten.
4
HOLZSCHWERTERDIPLOMATIE
Am Nordhügel war ich bisher nur selten gewesen. Zum einen lag er ziemlich weit entfernt von der Burg, und darüber hinaus schien er nichts Bemerkenswertes zu bieten zu haben. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Es stellte sich jedoch heraus, dass das Steilufer des Nordhügels der einzige Ort auf der gesamten Insel war, an dem stets Wellengang herrschte; und das bei jedem Wetter, selbst bei völliger Windstille, zu jeder Tageszeit und vermutlich auch in der Nacht. Letzteres konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, denn nach der schauderhaften Erzählung von Maljok hatte ich beschlossen, nächtliche Ausflüge auf der Insel tunlichst zu unterlassen.
Die Wellen entstanden etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt in dem Bereich, wo das Flachwasser endete. Sobald eine der vom Hügel aus unsichtbaren Schwingungen des Meeresspiegels diese Linie erreichte, kräuselte sich das Wasser zu einem schaumigen Kamm empor. Die neu geborene Welle rollte nun, immer schneller werdend und sich immer höher aufbäumend, auf das Ufer zu, wo sie an der steilen Felswand aufprallte und ihr kurzes Leben aushauchte. Es blieb nur ein dumpf verhallendes Grollen von ihr übrig, das noch für einen Augenblick in der Luft hing, während bereits die nächste Welle ans Ufer geschoben wurde. Früher oder später würde die Brandung den Nordhügel schleifen und schließlich ganz wegspülen. Die Insel wäre dann platt wie eine Flunder,