Am höchsten Punkt des Hügels, etwa fünf Meter vom abbröckelnden Steilufer entfernt, hatte ich mich bäuchlings auf der Erde ausgestreckt. Das dürre, von der Sonne verbrannte Gras pikste mich in den nackten Bauch. Mein T-Shirt trug ich schon lange nicht mehr, jedenfalls nicht am Tag, da es in der Hitze ohnehin nur lästig am Körper geklebt hätte. Überhaupt begann ich mich an das Leben auf der Insel zu gewöhnen, obwohl noch keine drei Wochen seit meiner Ankunft vergangen waren. Jetzt hatte ich neue Freunde, neue Gewohnheiten, meine eigene Technik, mit dem Schwert zu kämpfen, einen festen Platz am runden Tisch des Burgrates und, nicht zu vergessen, auch meinen Lieblingsplatz auf der Insel.
Hier herrschte immer vollkommene Stille, abgesehen vom Rauschen des Meeres, das ich jedoch als beruhigend empfand und nicht als Lärm. Hier gab es nichts als jenen grasbewachsenen Hügel, den durchsichtigen, klaren Himmel und den gleichmäßigen Atem des Ozeans. Oder auch des Meeres, wer wusste das schon so genau. Es schien, als sei die Welt rings umher sanft entschlafen, und selbst die Sonne am Himmel war stehen geblieben. Solange ich hier lag und den ewig ans Ufer rollenden Wellen zuschaute, würden auf den Inseln kein Unglück und kein Unrecht geschehen. Die Schwerter würden hölzern bleiben und die Wachhabenden auf den Brücken schläfrig und unbehelligt in der Sonne liegen.
Ich hätte große Lust gehabt, das alles Inga zu erzählen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie mich verstehen
Gegen die süße Schläfrigkeit ankämpfend, die mich an diesem Ort erfasste, gab ich mir einen inneren Ruck und sprang auf die Füße. Hurtig schritt ich den Hügel hinab in Richtung Burg und widerstand der Versuchung, mich noch einmal umzudrehen. Denn vom Nordufer hatte man den schönsten Blick auf den Ozean, vielleicht deshalb, weil es in dieser Richtung keine anderen Inseln gab. Dort erstreckte sich bis zum Horizont nur tiefes Blau. Dort lag - die Freiheit.
Die Mädchen waren noch in Ritas Kammer versammelt, nur Olja, die Jüngste, stapfte missgelaunt durch den Korridor. Ich schnitt ihr zum Spaß eine Grimasse, die sie mir mit einer giftigen Fratze heimzahlte.
Vorsichtig klopfte ich an der Tür. Zur Antwort schlugen mir kreischendes Gelächter und Ritas Stimme entgegen. »Dimotschka, gedulde dich noch fünf Minuten!«
Dimotschka … Hätte Inga mich so genannt, hätte ich mich sicherlich geschmeichelt gefühlt. Aus Ritas Mund dagegen klang es etwas gönnerhaft und herablassend. Ich drehte mich nach Olja um, ob sie es womöglich gehört hatte. Aber die stand mit finsterer Miene am Fenster, fuhr mit dem Finger über die Scheibe und achtete überhaupt nicht auf mich. Die Fensterscheibe war schmutzig, und Oljas Finger hinterließ schmierige Spuren.
»Malst du?«, fragte ich.
»Ja, einen Tannenbaum.«
Auf dem Fensterglas entstanden tatsächlich die Umrisse
»Ich möchte, dass Weihnachten ist«, erklärte sie trotzig, »und dass es schneit.«
Olja war ein drolliges Mädchen: klein, dürr und erstaunlich selbstständig. So betrübt sah ich sie zum ersten Mal, noch dazu wegen so einer Nichtigkeit.
»Was findest du denn so schön am Winter?«
»Weißt du, ich wurde geklaut, als ich gerade vor dem Weihnachtsbaum saß«, erklärte sie und malte eine Krippe neben den Baum. »Ich frage mich die ganze Zeit, was meine Eltern mir schenken wollten.«
Fast allen Jungen und Mädchen auf der Insel ging es gegen den Strich, sich als Kopie ihrer selbst zu begreifen. Nicht dass jemand bestritten hätte, was Inga und ich entdeckt hatten. Dennoch konnten sich die wenigsten mit der Tatsache abfinden, dass ihr Ebenbild auf der Erde geblieben war. So hielt es offenbar auch Olja. Denn zweifellos hatte die »eigentliche« Olja ihre Geschenke zu Weihnachten bekommen.
Inga steckte den Kopf aus der Kammer. »Bist du so weit, Dima?«
»Gerade fertig geworden«, erwiderte ich artig.
Es war nicht gerade viel, was für unsere Mission von Nutzen sein konnte. In die Hosentasche meiner Jeans hatte ich mit Wundsalbe getränktes Verbandszeug gestopft, und an meinem Gürtel hing in einer einfachen Schlaufe mein Schwert. Eine Schwertscheide war überflüssig, da die Klinge für mich ja aus Holz war.
Wir gingen die Südbrücke hinauf. Inga lief ein paar Schritte hinter mir, hielt sich dicht an der Balustrade und sah immer wieder nachdenklich aufs Wasser hinab. Ihr
»Dima, wenn wir nicht mehr nach Hause zurückkehren können, bleiben wir dann unser ganzes Leben lang auf der Insel?«, fragte sie so unvermittelt, als hätte sie laut nachgedacht.
»Ja. Aber wir kehren ganz bestimmt zurück!«
»Aber wenn nicht? Könnten wir dann nicht fliehen?«
»Wohin denn?«
»Egal wohin. Wir bauen ein Boot und segeln fort.«
»Im Keller ist ein Boot«, fiel mir ein. »Ich hab es selbst gesehen.«
»Dann bist du also einverstanden? Allein fürchte ich mich, mit dir zusammen hätte ich keine Angst. Wir fliehen also, ja?«
Ich blieb stehen und sah Inga erstaunt an. War das wirklich dasselbe Mädchen, mit dem ich mich im Kindergarten gebalgt hatte, mit der ich mir im Schulhof Schneeballschlachten geliefert hatte, auf deren Geburtstagsfesten ich regelmäßig zu Gast gewesen war und der ich kürzlich am Schulausflug über einen kalten, rauschenden Bach geholfen hatte? Sie hatte immer noch dasselbe hübsche Gesicht und die leise, ernsthafte Stimme. Ihre Figur indes war nicht mehr kindlich, wenn auch noch nicht so fraulich wie die von Rita.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich tatsächlich bereit war, mit ihr zu fliehen, egal ob in einer kleinen Nussschale auf den offenen Ozean hinaus oder auf die nächste Insel in die Sklaverei. Ich erschrak regelrecht über diese Erkenntnis. In diesem Augenblick gewahrte ich, dass Inga, die mich ihrerseits fragend angesehen hatte, meinem verträumten Blick nicht länger standhalten
»Gefällt’s dir auf unserer Insel nicht?«, fragte ich in gekränktem Tonfall.
»Doch schon, es ist eine schöne Insel«, entgegnete Inga mit einer wegwerfenden Handbewegung und fügte dann sehr ernst hinzu: »Was mir nicht gefällt, sind die Inseln an sich. Die Tatsache, dass man sich hier gegenseitig umbringen muss - und nicht irgendwelche Monster, sondern völlig unschuldige Jungen und Mädchen.« Bei diesen Worten schluckte sie und unterdrückte mit Mühe ein Schluchzen. »Und diese Außerirdischen … Ich habe immer das Gefühl, dass sie uns beobachten, sogar in der Burg.«
»In der Burg können sie uns nicht überwachen«, widersprach ich.
»Das glaube ich nicht!«
»Inga, wir haben das doch besprochen. Und wir haben uns einen Plan ausgedacht, wie wir alle wieder zurückkehren können.«
Sie nickte. »Natürlich, Dima. Ich werde mir ja auch alle Mühe geben. Nur habe ich die Befürchtung, dass daraus nichts werden wird.«
»Dann fliehen wir eben. Das nützt zwar wahrscheinlich auch nichts - du kennst ja die Geschichte vom Verrückten Kapitän. Aber egal, wir fliehen trotzdem.«
Inga sah mich zufrieden an. »Lieber segeln wir mit ihm, als hier auf den Inseln zu bleiben«, sagte sie wild entschlossen. »Wenn uns die Außerirdischen auf dem Meer in die Mangel nehmen, heuern wir als Matrosen beim Verrückten Kapitän an.«
Als wir den Scheitel der Brücke erreichten, waren Chris und Timur mit der »Vorbereitung des Schlachtfeldes« bereits weit fortgeschritten. Ein Junge hing, mit weit aufgerissenen, aber leblosen Augen zum Himmel starrend, rücklings über der Balustrade. Schon nach einem flüchtigen Blick wusste ich, dass ihm nicht mehr zu helfen war, und wandte mich seufzend ab. Inga stieß einen markerschütternden Schrei aus und begann hemmungslos zu weinen. Offenbar kannte sie den Jungen ganz gut aus ihrer Zeit auf der Insel Nr. 24 und hatte ihn gemocht.