Anstatt zu antworten, nickte ich nur flüchtig und würgte an einem Kloß in meinem Hals.
»Denk nicht schlecht über mich. Ich wollte wirklich nur nach Hause. Das war nicht fair von mir, ich weiß. Aber mein Heimweh war stärker als alles andere. Zu Anfang haben diese Außerirdischen ja auch nichts Schlimmes von mir verlangt. Ich sollte ihnen nur berichten, was in der Burg vor sich ging.«
»Sie bekommen also rein gar nichts von dem mit, was wir hier drinnen tun oder reden?«
»Nein. Und da ist noch etwas: Sie können uns auch nicht unterscheiden. Sogar Mädchen und Jungen verwechseln sie dauernd. Nur an der Größe können sie sich halbwegs orientieren. Zum Beispiel könnten sie dich von Chris unterscheiden. Aber mit Meloman oder Tolik würden
Meine Eingeweide krampften sich zusammen, und eiskalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Auf meinem Rücken fühlte ich einen schweren Blick lasten. Einen Krötenblick … oder einen Spinnenblick.
»Hast du denn wirklich keine Angst in diesem Loch?«, fragte ich.
Maljok dachte lange nach, dann hauchte er: »Doch. Vor allem nachts. Ich weiß, dass sie mir nie verzeihen werden.«
»Soll ich vielleicht mal mit den anderen reden?«
»Nein!«, erwiderte er scharf. »Hast du schon vergessen, worum ich dich gerade gebeten habe?«
Instinktiv tastete ich nach dem Eisenriegel des Schlosses und zog meine Hand von der Maljoks zurück.
»Gut. Ich habe verstanden«, sagte ich. »Du traust dir selbst nicht über den Weg.«
»So ist es.« Maljok zog ebenfalls seine Hand aus dem Spalt. »Und noch etwas, Dima«, fuhr er fort. »Darüber habe ich bis jetzt nicht gesprochen, weil ich dachte, dass es nicht wichtig ist. Die Außerirdischen waren immer sehr erpicht darauf, zu erfahren, wer mit wem befreundet ist, besonders wenn es sich um ein Mädchen und einen Jungen handelte. Das interessiert sie brennend, keine Ahnung, warum. Sie wollten unbedingt wissen, warum jemand für einen anderen ein Risiko eingeht. Zum Beispiel haben sie mich gefragt, warum die anderen Jungen im Kampf ihr Leben für mich riskieren. Weil wir Freunde sind, habe ich ihnen geantwortet. Daraufhin wollten sie, dass ich ihnen erkläre, was Freundschaft ist.«
»Und? Hast du’s ihnen erklärt?«
»Nein, ich konnte es nicht erklären.«
»Verstehe, du wolltest dir lieber keine Gedanken darüber machen.«
Maljok schwieg.
»Na gut. Schlaf jetzt«, sagte ich und entfernte mich von der Kerkertür.
»Ich versuch’s«, rief mir Maljok leise hinterher und fügte mit ernster Stimme hinzu: »Und richte Chris aus, er soll nicht vergessen, dass es auf allen Inseln Beobachter gibt. Auch auf denen, mit denen wir uns verbündet haben.«
Der Morgen auf der Insel Nr. 36 begann neuerdings immer mit einer Trainingseinheit. Noch bevor die Sonne über den Horizont lugte, jagte Chris die gesamte Mannschaft vor die Burg hinaus.
Im fahlen Dämmerlicht fanden sich am Sandstrand fast apathisch wirkende Gestalten ein, denen der Schlaf noch im Gesicht stand. Widerwillig stellten sie sich zu Trainingspärchen zusammen und begannen, leidenschaftslos und träge mit ihren Holzschwertern aufeinander einzuprügeln. Erst allmählich wurden ihre Bewegungen flinker, und das Klappern der aufeinanderschlagenden Holzwaffen wurde lauter. Hin und wieder kam es vor, dass sich ein stählernes Klirren in das dumpfe Gehämmer mischte. Die übereifrigen Duellanten brachen das Training dann sofort ab und pausierten, bis ihre überhitzten Gemüter sich wieder auf ein ungefährliches Maß abgekühlt hatten.
Bald blaute der Himmel, und erste Sonnenstrahlen vertrieben die nächtliche Kühle. Nach dem Training
Mein Trainingspartner war Meloman. Wir passten sehr gut zusammen, da wir annähernd gleich stark waren und unsere Einstellung zum Training gleichermaßen leger war: Nicht ein einziges Mal waren unsere Holzschwerter stählern geworden, was bei Hitzköpfen wie Timur und Chris an der Tagesordnung war.
Mechanisch Melomans Schwertschläge abwehrend, beobachtete ich aufmerksam Chris. Vor dem Training hatte ich ihm von meinem nächtlichen Gespräch mit Maljok erzählt und war nun sehr gespannt, wie er darauf reagieren würde. Bis jetzt war ihm nichts anzumerken.
Nachdem er mit einer eleganten Bewegung einen Schlag von Timur pariert hatte, ließ er plötzlich das Schwert sinken und verkündete unvermittelt: »Pause! Jungs, kommt mal zusammen.« Achselzuckend warf mir Meloman einen Blick zu und stapfte durch den Sand zu Chris hinüber. Zögerlich folgte ich ihm.
»Wer von euch kennt sich mit Technik aus?«, fragte Chris, während er noch Tom herbeiwinkte. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte er sich dann schnurstracks in Richtung Burgtor und wies uns über die Schulter an: »Kommt, ich möchte mir mit euch zusammen was ansehen!« Artig dackelten wir hinter ihm her, obwohl wir nicht die geringste Ahnung hatten, was er nun schon wieder ausgeheckt hatte.
Zum wiederholten Mal kam mir der Gedanke, dass unser Anführer eigentlich nie um eine gute Idee verlegen
Wir gingen in den Keller hinunter. Das Öffnen der Kellertür war eine längere Prozedur, denn seit Maljoks Enttarnung war der Riegel mit einem dicken Stahldraht gesichert, den nicht einmal Chris allein aufbiegen konnte. Mindestens zwei Mann mussten alle Kraft aufbieten, um den Draht gerade zu biegen und aus der Öse im Riegel zu ziehen. Es war ein einfaches und höchst effektives Sicherheitssystem: Selbst wenn es auf der Insel noch einen weiteren »Beobachter« gegeben hätte, wäre er allein nicht imstande gewesen, zur Sprechanlage im Keller vorzudringen.
Nachdem wir uns im schummrigen Licht einer Petroleumlampe den Weg durch den vollgestellten Keller gebahnt hatten, versammelten wir uns ehrfürchtig um die »Marmortafel« herum. Natürlich hatten wir uns schon oft die Frage gestellt, wie die Kommunikation über diese mysteriöse Sprechanlage funktionierte, bislang hatten wir es aber nicht gewagt, uns daran zu schaffen zu machen.
»Zuerst habe ich gedacht«, begann Chris, »dass die Außerirdischen nicht erfahren würden, dass wir ihnen auf die Schliche gekommen sind. Da habe ich mich offenbar getäuscht. Es hat also keinen Sinn, weiterhin Versteck zu spielen. Jetzt versuchen wir einfach mal herauszufinden, was es mit dieser Sprechanlage auf sich hat.«
Zunächst tatschte er vorsichtig mit der flachen Hand dagegen, dann presste er für ein paar Sekunden die Hände fest auf die Tafel.
»Mist, funktioniert nicht«, brummte er.
Dann griff er sich ein am Boden herumliegendes Eisenstück, holte aus und schlug mit voller Wucht gegen die Tafel.
»Macht auch mit!«, rief er uns zu.
Etwa zehn Minuten lang malträtierten wir die Marmorplatte ergebnislos mit allem, was uns in die Hände kam. Dann brach sie plötzlich mit einem eigenartigen, dumpfen Geräusch aus der Wand und glitt ganz langsam, wie ein Stück Schaumstoff, hinab. Als sie mit einer Ecke am Boden auftraf, zerfiel sie in winzige Marmorkrümel. Verdutzt starrten wir auf die Bescherung.
Meloman kniete sich hin, nahm sich eine Handvoll der Steinchen und ließ sie langsam in seine andere Hand rieseln.
»Also, selbst wenn das ein Gerät ist … Ich glaube nicht, dass wir da durchsteigen«, sagte er enttäuscht. »Chris, was machst du denn?«
Chris hatte immer noch das kurze rostige Eisenrohr in der Hand und zeigte damit auf die Wand. An der Stelle, wo soeben die Marmortafel herausgefallen war, befand sich nun keineswegs ein Loch, sondern eine neue Sprechanlage, die genauso marmorn glänzte wie die alte.
»Sie haben sie ausgewechselt«, konstatierte Meloman völlig perplex. »Aber wie?«
»Und wie kommen die frischen Lebensmittel in die Küche?«,gab Chris zurück. »Das ist so eine Art Telekinese, wahrscheinlich. Tja, also der Reparaturservice klappt gut. Gehen wir … Wo ist Tom?«
Erschrocken blickte ich mich um. Die Außerirdischen hätten beim Auswechseln der Tafel auch Tom verschwinden lassen können. Das war ihnen zuzutrauen. Zur allgemeinen Erleichterung tauchte Tom jedoch alsbald aus