»Tom hat gerade das Boot inspiziert, das hier unten im Keller herumliegt. Vor sieben Jahren sind zwei Jungen in diesem Boot auf der Insel gelandet. Das war kurz nachdem ich auf die Insel gekommen bin. Wir haben damals versucht, mit dem Boot in See zu stechen, sind aber schon nach wenigen Metern gekentert. Tom hat mir eben erzählt, dass er mit seinem Vater oft beim Segeln war und mit so einem Boot umgehen kann. Er meint, man müsste nur einen neuen Kiel anfertigen und den Boden mit Ballast beschweren. Außerdem hat er gesagt, dass eine Konföderation ohne Flotte doch nur eine halbe Sache sei.«
6
KÄPTEN TOM
Von einem bestimmten Zeitpunkt an begannen mir die Ereignisse zu missfallen. Es muss der Tag gewesen sein, an dem wir die Insel Nr. 30 durch einen Zangenangriff eroberten.
Unser Vorgehen war weder heimtückisch, noch war es ein primitiver Racheakt. Mehrfach hatten wir den Dreißigern angeboten, in die Konföderation einzutreten, was sie jedoch starrsinnig ablehnten. Offensichtlich glaubten sie uns nicht, dass wir es ernst damit meinten. Nach dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen hatte Chris mit den übrigen Kommandeuren der Konföderation verabredet, von zwei Seiten gleichzeitig einen Sturmangriff auf den störrischen Feind zu unternehmen.
Am vereinbarten Tag marschierte auf zwei Brücken der Insel Nr. 30 eine halbe Armee auf. Unter normalen Umständen hätten wir es uns nicht leisten können, zehn Kämpfer auf eine einzige Brücke zu entsenden, denn dann wären die übrigen zwei Brücken vollständig entblößt gewesen. Eine solche Einladung, einfach auf die andere Seite der Brücke zu spazieren und sich die Burg des Scharlachroten Schildes einzuverleiben, hätte sich keine der Nachbarinseln entgehen lassen. Dank der Konföderation hatten wir jedoch nichts dergleichen zu befürchten.
Zu zehnt, neun Jungen und Inga, standen wir vier Kämpfern der Nr. 30 gegenüber und fühlten uns unsagbar stark.
»Vielleicht überlegt ihr euch das Ganze noch mal?«, rief Tolik den Gegnern zu und tätschelte drohend sein Schwert.
Die Dreißiger waren nicht dafür bekannt, Feiglinge zu sein. »Wir gehen nicht in Gefangenschaft«, erwiderte einer von ihnen unerschrocken.
Von Gefangenschaft war eigentlich keine Rede gewesen, aber wir hatten jetzt keine Lust mehr, alles noch einmal von vorn zu erklären. Außerdem hatten wir die demütigende Niederlage, die uns die Insel Nr. 30 zugefügt hatte, noch nicht vergessen. Wenn man sich in der Übermacht wähnt, erinnert man sich gern an solche offenen Rechnungen.
Chris und Tolik eröffneten den Kampf. Ihre Gegner waren stark und leisteten heftigen Widerstand. Wir waren indes gar nicht auf einen schnellen Sieg aus, sondern hatten uns eine Zermürbungstaktik zurechtgelegt. Als zweites Kampfpaar stürzten Tolik und ich uns ins Gefecht, danach übernahmen Meloman und Sershan die Position an vorderster Front. Zwar wechselten sich auch die Dreißiger ab, sie hatten jedoch nur zwei Kampfpaare zur Verfügung, während wir immer neue Kämpfer nach vorn schickten: Janusch und Ilja, Tom und den inzwischen ausgeruhten Timur. Nur Inga hatten wir unmissverständlich angewiesen, sich aus den Gefechten herauszuhalten.
Der entscheidende Durchbruch gelang ausgerechnet Tom. So etwas nennt man Anfängerglück, ich selbst hatte ja auch schon davon profitiert.
Zu zweit auf Timur konzentriert, hatten die Feinde seinen Partner völlig aus den Augen verloren, was nicht weiter verwunderlich war, denn Tom hielt sein Schwert
Als der Gegner ihm den Rücken zukehrte, fackelte Tom nicht lange und setzte einen nahezu perfekt geführten »Zornhau« an. Diesen Hieb hatte ihm Chris gestern erst im Training gezeigt. Die Verteidiger waren nun einer weniger.
Um die momentane Konfusion beim Feind auszunutzen, stürmten nun auch Chris, Tolik und Janusch wieder nach vorn, wobei sie sich beinahe gegenseitig umgerannt hätten. Sekunden später sank der nächste Gegner zu Boden. Dem dritten, der uns vor dem Gefecht noch so tapfer die Stirn geboten hatte, schlug Timur mit einem gewaltigen Hieb das Schwert aus der Hand.
»Ich … ich ergebe mich!«, schrie er verzweifelt.
»Wir machen keine Gefangenen«, gab Timur eiskalt zurück.
Leise säuselnd zerschnitt Timurs Klinge die Luft, bevor sie mit einem grauenhaften Schmatzen ihr Ziel traf.
Taumelnd kehrte Tom aus der Kampfzone zurück. Sein Gesicht war kalkweiß, seine Lippen zitterten, und seine Augen stierten ins Leere. Aufmunternd gab ich ihm einen Klaps auf die Schulter, schließlich war doch alles gut gegangen. Tom schüttelte nur den Kopf und marschierte wie ferngesteuert die Brücke hinunter zurück zur Burg.
Langsam rückwärtsgehend, fasste der letzte Kämpfer der Nr. 30 das Schwert mit beiden Händen, während sein panischer Blick abwechselnd auf Chris und Timur fiel, die entschlossen auf ihn zugingen.
»Lasst mich … Ich … ich erledige das selbst … Ich will
Wir erstarrten, und bleierne Stille legte sich über die Brücke. Nur das sanfte Rauschen des Meeres untermalte die schauerliche Szenerie. Mit aus den Höhlen tretenden Augen starrte der Junge auf die Klinge in seinem Bauch.
Erst als er zu Boden sank, begriff ich, was geschehen war: Auf manchen Inseln herrschte der Glaube, dass derjenige Teilnehmer des Spiels, der sich in einer ausweglosen Situation selbst tötet, auf die Erde zurückkehrt.
»Warum hast du gesagt, dass wir keine Gefangenen machen?«, platzte Meloman in die Stille hinein. »Nur deswegen hat er das getan!«
»Das habe ich doch nicht zu dem hier gesagt«, verteidigte sich Timur, »sondern zu dem anderen. Und den habe ich erkannt: Es war das Schwein, das den Pfeil auf Kostja abgeschossen hat.«
Hinter mir hörte ich Inga leise weinen und ging zu ihr.
»Dima, warum habt ihr das getan? … Warum?«, fragte sie und sah mich vorwurfsvoll an.
Verärgert zuckte ich mit den Achseln. Immerhin hatte nicht ich die vier Jungen umgebracht, die sich im Übrigen ja selbst für den Kampf entschieden hatten. Außerdem hatte Inga ganz genau gewusst, dass es heute auf der Brücke kein Spaziergang werden würde, als sie uns am Morgen überredete, sie mitzunehmen.
So ist es immer mit den Mädchen, selbst mit den allerklügsten: Zuerst setzen sie mit allen Mitteln ihren Willen durch, und hinterher darf man sich dann noch Vorwürfe anhören. Offenbar stellen sie sich alles immer viel romantischer vor, als es in Wirklichkeit ist.
»Jetzt werft sie doch endlich ins Meer«, rief Tolik. »Was stehen wir hier herum?«
»Wirf sie doch selbst runter«, giftete Sershan.
»Mache ich auch!«, erwiderte Tolik zornig und machte sich ans Werk.
Inga schloss die Augen. Mit einem Mal verstand ich, dass sie recht hatte. Nicht dass wir Jungen im Unrecht gewesen wären, aber in diesem Moment trafen zwei Wahrheiten aufeinander - und eine jede hatte ihre Berechtigung. Es hätte keinen Sinn gehabt, deswegen mit Inga zu streiten.
»Inga, ich kann es doch auch nicht ändern«, sagte ich schuldbewusst. »Es bleibt uns doch nichts anderes übrig. Vielleicht ist es am besten, wenn du mit Tom zur Burg zurückgehst.«
Sie nickte, ohne die Augen zu öffnen, drehte sich um und ging zögerlich los. Von unten blendeten mich plötzlich Lichtblitze, die sogar das Sonnenlicht überstrahlten: einer … zwei, drei, vier Lichtblitze.
Mit zusammengekniffenen Lidern blickte ich Inga hinterher, die nun im Laufschritt zu Tom aufschloss. Vor meinen Augen schwammen immer noch bunte Kreise.
»Dima, wir müssen weiter!«, rief Tolik.
Als ich mich umwandte, sah ich, dass meine Gefährten auf der anderen Seite schon etwa hundert Meter hinuntergelaufen waren. Nur diese wenigen Meter trennten mich von ihnen - und einige rote Lachen auf dem rosa Marmor. Ohne auf den Boden zu sehen, lief ich ihnen nach.
Etwas in mir war zerbrochen.