Als wir den verbliebenen Verteidigern der Nr. 30, in
Doch obwohl ich mich also genauso verhielt wie alle anderen auch, klang es mir ständig in den Ohren: Wozu? Wozu?
Timur stieg durch ein Fenster in die Burg ein und öffnete das Tor von innen.
Wozu?
Um nach den restlichen Bewohnern der Insel zu suchen, schwärmten wir in der Burg aus. In einem großen Saal, der ein wenig an unseren Thronsaal erinnerte, stießen wir auf drei Mädchen und einen etwa dreizehnjährigen Jungen, dessen Arm verbunden war. Alle vier waren bewaffnet, und selbst die Schwerter der Mädchen blitzten stählern.
Wozu?
»Werft die Waffen weg!«, befahl Chris nachdrücklich. »Wir haben nicht die geringste Lust, euch zu töten.«
Klirrend landeten die Schwerter der Mädchen auf dem Boden. Nach kurzem Zögern warf der Junge seines dazu.
»Na also«, sagte Tolik. »Ihr geht fürs Erste auf verschiedenen Inseln in Gefangenschaft. Und dann sehen wir weiter.«
Wozu?
Nachdem Tom sich von dem Schock, auf der Brücke einen Kämpfer getötet zu haben, erholt hatte, machte er sich an die Reparatur des Bootes. Genauer gesagt: Er koordinierte die Reparatur des Bootes. Denn mit den eigentlichen Arbeiten waren hauptsächlich Sershan, Ilja und zwei handwerklich geschickte Jungen von der Insel Nr. 12 befasst. Tom dagegen hüpfte meist geschäftig um das Boot herum, das auf die Seite gedreht vor der Burgmauer im Sand lag, und gab in einem haarsträubenden englischrussischen Kauderwelsch seine Instruktionen. Einen Vorteil hatte dieses sprachliche Desaster immerhin: Indem Tom seine Anweisungen tapfer auf Russisch radebrechte, gelangen ihm so komische Wortschöpfungen, dass ihm niemand seinen zuweilen etwas wichtigtuerischen Ton übel nahm.
Nach einem erfrischenden Bad im Meer lag ich etwa zehn Meter vom Boot entfernt im Sand und genoss es, den anderen beim Arbeiten zuzusehen. Ein wenig fröstelte mich, denn die Sonne stand schon tief, und ein böiger Wind strich über meinen nassen Rücken.
Toms Handlanger waren gerade damit beschäftigt, einen behelfsmäßig aus Brettern zusammengezimmerten Kiel am Bauch des Bootes zu befestigen. Als sie fertig waren, begutachtete Tom kritisch das Ergebnis und nickte endlich zufrieden. Danach schlug er großmütig vor, eine Pause einzulegen, wurde jedoch umgehend von seinen Mitarbeitern überstimmt, die der Meinung waren, dass sie für heute genug geschuftet hätten.
Toms Proteste ignorierend, entschwanden die Jungen von der Nr. 12 und Sershan sogleich in Richtung Burgtor, während Ilja sich in meine Richtung verzog. Die Hände empört in die Hüften gestützt, blieb Tom neben seinem
Ilja ließ sich neben mir in den Sand plumpsen.
»Warum gehst du nicht ins Wasser?«, fragte ich.
»Ach … Keine Lust.«
Melancholisch stocherte er mit dem nackten Fuß im Sand, bis eine kleine Grube entstand. Während er weiter wühlte, sickerte plötzlich trübes Wasser in den Hohlraum. Allem Anschein nach war es recht kalt, denn er fluchte und zog mit einem Ruck den Fuß heraus. Dann nahm er seine Brille ab und begann, mit einem Zipfel seines T-Shirts die Gläser zu polieren. Dass der verschwitzte, sandige Fetzen dazu geeignet sein sollte, die Sicht durch die Gläser zu verbessern, schien höchst zweifelhaft, trotzdem fuhr er eifrig damit fort. Er schien mir ein wenig verlegen zu sein.
»Es wäre ein Risiko, jetzt zu baden«, erläuterte er beflissen, »denn es könnte passieren, dass man versehentlich zum Himmel schaut, und dann gute Nacht.«
Damit hatte er gar nicht einmal unrecht. Die dritte und zweifellos auch dümmste Hauptregel des Großen Spiels besagte, dass man bei Sonnenuntergang nicht zum Himmel blicken durfte. Und eben in diesen Minuten war die Sonne dabei, am Horizont ins Meer abzutauchen.
»Ilja, wie heißt das noch mal genau in den Regeln? Dass man nicht nach oben oder dass man nicht zum Himmel schauen darf.«
»Nicht nach oben.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
»Aber wozu nach oben schauen?«, fragte ich und deutete
»Richtig!«, fiel er mir begeistert ins Wort und sprang auf. Er hatte sofort verstanden, worauf ich hinauswollte, und für Unfug und Streiche jeder Art war er immer zu haben.
»Lauf zu Rita!«, rief ich. »Und leih dir ihren Schminkspiegel. Beeil dich, sonst ist es zu spät!«
Aufspritzender Sand flog mir ins Gesicht, als Ilja mit wirbelnden Beinen lossprintete. Schon nach wenigen Minuten kam er zurück, in seinem Schlepptau Sershan, dem er offenbar erzählt hatte, was wir vorhatten.
Den Trick mit dem Spiegel habe ich mir, ehrlich gesagt, nicht selbst ausgedacht. Ich habe in irgendeinem Märchen davon gelesen - leider fällt mir nicht mehr ein, in welchem. Auch da beobachtet der Held den Himmel mithilfe eines Spiegels, ohne nach oben zu sehen.
Ilja setzte sich neben mich in den Sand, legte Ritas Schminkspiegel vor sich hin und erklärte: »Ich werde hineinsehen.«
»Das würde dir so passen«, entgegnete Sershan entrüstet. »Wir wechseln uns ab.«
Da wir nicht genau wussten, welcher Moment während des Sonnenuntergangs der entscheidende war, mussten wir uns auf eine längere Wartezeit einstellen.
»Zwanzig, einundzwanzig …«, zählte Sershan monoton. Als er bei hundertzwanzig angekommen war, schubste er Ilja weg und hockte sich selbst vor den Spiegel. »Wir wechseln uns alle zwei Minuten ab.«
Schweigend harrten wir aus. Ich warf einen Blick zur Burg, um zu sehen, ob nicht Schaulustige im Anmarsch
»Siehst du fliegende Untertassen?«, spöttelte Ilja.
»Nein, aber eine Bratpfanne ist soeben vorbeigeflogen«, erwiderte Sershan kühl.
»Wechsel! Du hast Pause«, verkündete Ilja triumphierend.
Jetzt war ich an der Reihe. Die Sonne war beinahe vollständig hinterm Horizont verschwunden, gerade versank der letzte Rest des rot glühenden Balls in den grauen Wellen des Meeres. Der Himmel verdunkelte sich, sah aber ganz gewöhnlich aus, wie immer.
Was sollte es dort auch schon Großartiges zu sehen geben? Das Raumschiff der Außerirdischen, das über dem Planeten schwebt? Oder eine lausige fliegende Untertasse? Und selbst wenn dort irgendwo ein Fünkchen aufleuchten würde, das uns die »geheime« Position ihrer Überwachungseinrichtung verraten hätte - war es wirklich nötig, so eine strenge Regel aufzustellen, um das zu verhindern? Ein Raumschiff konnte man schwerlich mit einer Armbrust abschießen, und dass wir beobachtet wurden, wussten wir ohnehin.
»Wechsel!«, rief Ilja, während ich mir die seltsame Regel noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Nun blickte Ilja wieder hoch konzentriert in den Spiegel. Sershan und ich sahen uns enttäuscht an. Am Wachturm verloschen die letzten Sonnenstrahlen; es wurde Abend.
»Was ist das denn?«, murmelte Ilja plötzlich verdattert. »Das …«
Synchron stürzten Sershan und ich zu ihm und versuchten,
Mit einem Mal war es wieder taghell geworden. Der kleine runde Spiegel spuckte wie ein Projektor eine extrem grelle, blendende Lichtsäule aus, die wie ein Festkörper aussah. Die Erscheinung dauerte etwa eine Sekunde. Dann knirschte das Glas, und der Spiegel zersprang in Iljas Händen. Er stieß einen gedämpften Schrei aus, fuhr mit dem Oberkörper zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht. Seine Brille landete neben den geschwärzten Scherben des Spiegels im Sand. Ätzender Dampf verbrannten Amalgams hing in der Luft.
»Ilja!«, schrie ich, als ich bemerkte, dass er rücklings umkippte. Ich packte ihn an den Schultern. »Was ist mit dir?«
»Meine Augen … sie tun so weh.« Er zitterte am ganzen Leib.
Unser Trick war in die Hose gegangen. Der durch den Spiegel etwas dilettantisch getarnte Blick nach oben hatte die Außerirdischen offenbar heftiger verärgert als die unverhohlene Absprache der konföderierten Inseln.
»Nimm die Hände weg, Ilja!«, rief ich besorgt.
Langsam zog er die Handflächen von seinem Gesicht. Seine Augen waren mit einem dichten roten Netz geplatzter Äderchen überzogen. Konsterniert sah er mich an.