»Hey, Käpten, nicht einschlafen!«, trompetete Timur.
Draußen rumpelte es erneut, offenbar ging Tom nun zum Steuerrad zurück. Janusch kicherte.
Kurz bevor ich einschlief, vernahm ich noch Ingas schlaftrunkene, aber ernste Stimme: »Wenn irgendetwas passiert, müsst ihr mich unbedingt aufwecken.«
Ich erwachte, als mich jemand an der Schulter rüttelte und mir leise ins Ohr flüsterte: »Di-ma, Di-ma.«
Mein erster Versuch, aus meiner Schlafstatt zu klettern, scheiterte kläglich, da ich mich in den Maschen der verflixten Hängematte verheddert hatte und wie eine Mumie eingewickelt dalag. Nachdem ich mich schließlich befreit hatte, setzte ich mich mit einem eleganten Beinschwung auf, wobei mein Schädel polternd gegen die Decke rumste.
»Pst!«, zischte Tom. »Du bist very laut.«
»Mist!«, hauchte ich, biss die Zähne zusammen und glitt aus der Hängematte. Niemand war aufgewacht. Es war keinerlei Geräusch zu hören, nicht einmal spritzendes Wasser. Unser Boot trieb ganz ruhig im Meer. Tom murmelte irgendetwas auf Englisch vor sich hin, was ich nicht verstand, ich bekam nur mit, dass er etwas von seinem Vater und von einem schönen Schiff sagte. Vermutlich fand Tom es wesentlich gemütlicher, mit seinem Vater auf einer Jacht vor Australien zu segeln als mit unserem improvisierten Boot auf einem fremden Ozean.
Nachdem Tom mir die beiden Windjacken gegeben hatte, kletterte er in die Hängematte, während ich so leise wie möglich die Kajüte verließ und an Deck ging.
Draußen herrschte noch tiefe Nacht, obwohl ich im Osten einen Hauch von Dämmerung wahrzunehmen glaubte. Im Süden durchbrach das Leuchtfeuer der Insel Nr. 23 das Dunkel. Der mit fremden Sternen geschmückte Himmel über mir schaukelte im Rhythmus des Bootes einschläfernd hin und her. Blinzelnd suchte ich nach dem Auge des Außerirdischen, doch mein Blick verlor sich alsbald im Gewirr der funkelnden Muster. Ein kleiner Nachen mit ein paar Teenagern an Bord auf dem Ozean - was für eine Nichtigkeit angesichts der sich über mir dehnenden Unendlichkeit.
Schwer lag die Müdigkeit auf meinen Lidern, so schwer, dass sich aus meinem Unterbewusstsein ein verlockender, arglistiger Gedanke meldete: Warum nicht in die Kajüte gehen, Timur oder Janusch aufwecken und mich ablösen lassen? Schließlich konnten sie ja nicht wissen, wann Tom nach unten gekommen war und wie lange ich schon Wache gehalten hatte.
Entrüstet über diese niedere Anwandlung, lehnte ich mich über Bord und schöpfte mir einige Handvoll kühles Meerwasser ins Gesicht. Das salzige Nass brannte auf meinen Lippen, die völlig ausgetrocknet und aufgesprungen waren. Kühle und Schmerz vertrieben die Müdigkeit, der Gedanke, in die Kajüte zurückzugehen, löste sich in Luft auf.
Da das Boot keinerlei Anstalten machte, aus dem Lichtschein des Leuchtfeuers davonzutreiben, streckte ich mich auf der Holzbank am Achterdeck aus und legte mir eine mit Vorräten gefüllte Stofftasche unter den Kopf. Um nicht wieder müde zu werden, nahm ich mir vor, den Sternenhimmel des fremden Planeten zu studieren - und dann sah ich es, das Auge des Außerirdischen …
Als ich morgens erwachte, dümpelte die Aliens Nightmare nur etwa hundert Meter vor der Küste der Insel Nr. 23 im flachen Wasser. Schlaftrunken erhob ich mich von meinem unbequemen Lager und sah mich um. Über der Burg, die sich genau in der Mitte der von niedrigen Büschen bewachsenen Insel befand, hing eine aus zwei Fetzen zusammengenähte, rot-blaue Flagge schlaff von ihrem Mast herab. Knapp darunter war ein schmales weißes Band befestigt, das Zeichen der Konföderation.
Erst jetzt bemerkte ich, dass unser Boot ganz langsam auf die Küste zutrieb und auf Grund zu laufen drohte. Eilig schlüpfte ich in die Kajüte und weckte Tom. Zu zweit setzten wir das Segel, das sich im schwachen morgendlichen Wind sanft blähte. Während ich das Segel an den Schoten festhielt, kurbelte Tom stürmisch am Steuerrad. Mit ächzendem Ruder drehte die Aliens Nightmare bei und entfernte sich langsam vom Ufer. Wir hatten keine Zeit zu verlieren, denn wir hatten uns vorgenommen, innerhalb eines Tages den gesamten Archipel zu durchqueren und alle Inseln zu kartieren.
Etwas später quietschte die Kajütentür, und Timur erschien an Deck. Von der grellen Sonne geblendet, kniff er die Augen zusammen, beugte sich über die Bordwand und wusch sich prustend das Gesicht. Dann legte er die flache Hand über die Augen, um sich vor der noch tief stehenden Sonne zu schützen, und spähte aufs Meer hinaus.
Tom steuerte das Schiff nach Norden. Wir segelten unter der Brücke hindurch, die die Insel Nr. 23 mit ihrer Nachbarinsel Nr. 16 verband. Letztere hieß die Insel der Blauen Spiegel, und es schien ratsam, sie in sicherer Entfernung zu passieren, da ihre Bewohner der Idee der Konföderation
Bei der damaligen Sitzung des Konföderationsrats war ich dabei gewesen und konnte mich erinnern, dass das Votum einstimmig getroffen worden war. Auf Achmets Frage, was mit den Gefangenen passieren sollte, hatte Chris wie selbstverständlich geantwortet: »Alle Mädchen und die Jungen unter zehn Jahren werden auf andere Inseln verteilt.« Damals hatte ich mich sehr darüber gewundert, dass niemand die Frage stellte, was mit den älteren Jungen geschehen sollte.
Inzwischen war auch Janusch aus seiner Koje gekrochen. Er hatte sich neben mich aufs Kajütendach gesetzt und war damit beschäftigt, die Insel der Blauen Spiegel mit dem Fernglas zu inspizieren. Plötzlich stieß er mich mit dem Ellenbogen an, drückte mir schweigend das Fernglas in die Hand und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Burg.
Auf dem flachen Dach eines Gebäudeteils, auf dem bei dieser Insel alle Brücken zusammenliefen, drängte sich eine Schar von etwa fünfzehn Mädchen und Jungen. Sie sahen unserem sich langsam entfernenden Schiff nach, schienen erregte Debatten zu führen und gestikulierten wild.
Obwohl wir schon etwas zu weit entfernt waren, als dass sie uns gut hätten sehen können, rief ich: »Timur, wir müssen die Flagge der Konföderation hissen. Vielleicht
Mit gehisster Konföderationsflagge setzte die Aliens Nightmare ihren Weg fort.
Schon seit Tagesanbruch verspürte ich ein ungutes Gefühl, eine innere Unruhe, für die es eigentlich keine vernünftige Erklärung gab. Doch allmählich wurde mir klar, was der Grund dafür war: Die Sache lief einfach zu glatt!
Ohne den geringsten Zwischenfall hatten wir die Inseln der Konföderation passiert, eine geruhsame Nacht in dem friedlich dahintreibenden Boot verbracht und am Vormittag bereits fünf fremde Inseln umschifft und sorgfältig in unserer Karte verzeichnet.
Zu Mittag hatte Inga zusammen mit ihrem Hilfskoch Janusch ein derart üppiges Gelage aufgetischt, dass sich die Besatzung der Aliens Nightmare für mehrere Stunden in einen Haufen zufriedener, schläfriger Faulpelze verwandelte. Timur und Janusch hatten sich das Kajütendach ausgeguckt, wo sie sich im Schatten des Segels zur Ruhe legten. Tom hatte das Steuerrad festgestellt und es sich auf dem Bug bequem gemacht. Inga war auf der Flucht vor der Sonne in die Kajüte verschwunden.
Getrieben von meiner inneren Unruhe, hatte ich als Einziger beschlossen, mich nicht der Sorglosigkeit hinzugeben, sondern mich mit der Karte in der Hand auf das Achterdeck gesetzt. Obwohl wir noch nicht allzu viel gesehen hatten, reichte es aus, um den Archipel der Vierzig Inseln grob zu skizzieren.
Unser riesiges Gefängnis im Ozean erstreckte sich von Nord nach Süd in Form eines ovalen Kleckses, in dem
Unwillkürlich sah ich mich nach allen Seiten um, es war jedoch weit und breit kein anderes Schiff zu sehen. Der Klipper des Verrückten Kapitäns, so es ihn denn überhaupt gab, kreuzte vermutlich irgendwo weit weg von den Inseln im Meer und wartete auf den nächsten Sturm. Für einen Wetterumschwung gab es allerdings nicht die geringsten Anzeichen.