»Dima.«
Obwohl Sergej nur wenig älter war als ich, wirkte er der Sprache und dem Benehmen nach auf mich sehr erwachsen. Er strahlte eine gewisse zerstreute Sanftmut aus, wie man sie bei Jungen selten findet, höchstens bei notorischen Einserschülern. Anderseits sah Sergej aber überhaupt nicht wie der typische Klassenbeste aus, dazu war er viel zu durchtrainiert, etwa so wie Chris und Tolik.
»Keine Sorge, wir haben nicht vor, euch zu bekriegen«, sagte er. »Unsere Insel ist friedliebend.«
»Unsere auch«, entgegnete ich und ließ den Blick über die um mich herumstehenden Jungen schweifen. Sie waren allesamt bewaffnet, und die meisten ihrer Schwerter glänzten metallisch.
»Das sehe ich«, sagte Sergej mit einem Anflug von Ironie und schaute mit zu Schlitzen verengten Augen an mir vorbei zum Boot hinüber.
Als ich mich, seinem Blick folgend, umdrehte, sah ich den Jungen, der eben an mir vorbeigeschwommen war, an Deck der Aliens Nightmare stehen. Hinter seinem Rücken stand Janusch mit blitzendem Schwert, während Timur ungeniert die Badehose des Jungen abklopfte, um zu überprüfen, ob er auch wirklich unbewaffnet war.
»Ähm, weißt du, wir haben gerade eine üble Erfahrung gemacht, als wir bei euren Nachbarn vorbeisegelten«, sagte ich verlegen. »Man hat von einer Brücke herunter ein Schwert auf uns geworfen.«
Sergej rückte sofort näher zu mir und sah mich ernst an.
»Verstehe«, sagte er. »Das waren die von der Insel Nr. 6, denen ist so was immer zuzutrauen. Woher kommst du?«
»Von der Nr. 36. Die Insel des Scharlachroten …«
»Nein, woher aus Russland kommst du, nicht zufällig aus St. Petersburg?«
»Nein.«
»Schade. Darf ich vorstellen, André, Michel …«
»Alles Franzosen?«, fragte ich neugierig.
»Die meisten.«
Es war bereits dunkel, als unser Schiff am Ufer festmachte.
Nicht dass ich nun völlig beruhigt gewesen wäre. Nach wie vor schien es mir durchaus denkbar, dass die Inselbewohner uns angreifen würden, aber nachts in Ufernähe zu treiben und sich auf einen improvisierten Anker zu verlassen, wäre noch gefährlicher gewesen, als an Land zu gehen. Denn der Wind wurde stärker, und, was noch bedenklicher war, am Horizont zogen dunkle Regenwolken auf. Das Wetter auf den Inseln konnte blitzartig umschlagen.
Wir hatten ausgehandelt, dass wir unsere Waffen behalten durften. Nachdem der Bug der Aliens Nightmare sich mit einem sanften Knirschen in den Sand gebohrt hatte, reichte mir Timur mein Schwert und meine Kleider.
Als Erstes schnallte ich mir den Gürtel mit dem Schwert um, erst danach schlüpfte ich in Jeans und T-Shirt. Unsicher blickte ich mich um. Timur und Tom waren damit beschäftigt, das Boot noch ein Stück weiter ans Ufer zu ziehen, während Inga, Janusch und die Jungen von der Insel mich schweigend beobachteten. Sie lachten nicht, nein. Sie verstanden mich!
Krampfhaft und voller widersprüchlicher Gefühle umklammerte ich den Griff meines Schwerts und wusste selbst nicht, warum. Ganz allmählich wurde das raue Holz in meiner Hand zu glattem Stahl.
Mit einer gewissen Erleichterung blickte ich zu Sergej und seinen Freunden. Noch hatte ich mich nicht in eine gefühllose Kampfmaschine verwandelt. Noch hielt ich mich. Noch!
Die Insel Nr. 4 wurde von ihren Bewohnern Kleine Bastion genannt. Die Funktion, die bei uns der Thronsaal übernahm, wurde hier von einer Rundkapelle erfüllt, in der mir als einzige Besonderheit eine kleine Ikone auffiel. Sicherlich hatte sie ein früherer Bewohner mit auf die Insel gebracht. Fast den ganzen Abend saß ich dort mit Sergej zu zweit zusammen, nicht weil wir allein sein wollten, sondern weil die Übrigen anderweitig beschäftigt waren.
Timur, der sich erstaunlich schnell mit einigen französischen Jungen angefreundet hatte, verschwand mit ihnen im Trainingssaal, wo sie eifrig die Schwerter schwangen.
Tom und der zehnjährige André, der auf der Erde ebenfallsAliens Nightmare am Strand, tauschten sich über Jachten aus und spannen Seemannsgarn.
Janusch hatte auf der Insel einen Landsmann getroffen, worüber er verständlicherweise völlig aus dem Häuschen war. Der Junge hieß Marek und stammte aus Danzig. Schon seit mehreren Stunden saßen sie in Mareks Kammer und unterhielten sich auf Polnisch.
Inga befand sich natürlich in Gesellschaft der auf der Insel lebenden Mädchen. Wie sie es schaffte, mit einer Französin, zwei dänischen Zwillingsschwestern und einer fünfzehnjährigen Schwarzen aus Sambia - oder war sie aus Simbabwe? - eine gemeinsame Sprache zu finden, war mir ein Rätsel. Einmal mehr legte sie eine jener Fähigkeiten an den Tag, die nur Mädchen gegeben zu sein scheint und ebenso unbegreiflich ist wie das Talent, aus Buchweizengrieß, Haferschleim und sonstigem Ekelzeug leckere Torten zu backen.
Die Rundkapelle hatte auch eine ähnliche Ausstrahlung wie unser Thronsaal, eine Mischung aus Adelspalais und Räuberhöhle. Das Gegengewicht zu einem Dutzend selbst zusammengenagelter Holzhocker mit windschiefen Beinen bildeten zwei luxuriöse, mit edlem Samt bezogene Polstersessel, die mich hellauf begeisterten. Zwar war der früher vermutlich gelbe oder gar rote Bezug zu einem fahlen Hellgrau verblasst, und der Zahn der Zeit hatte deutliche Spuren an ihnen hinterlassen, dennoch waren sie unglaublich weich und bequem, worauf es bei einem Sitzmöbel schließlich ankommt. Wie ich es zu Hause im Fernsehsessel meiner Eltern gern tat, fläzte ich mich, das eine Bein über die Lehne geschwungen, genussvoll in einen davon hinein.
Sergej machte sich inzwischen an einem verglasten Schrank zu schaffen, aus dem er zwei kleine Tassen und ein Plastiksäckchen mit braunem Pulver hervorkramte.
»Trinkst du einen Kaffee?«, fragte er.
»Sehr gern«, erwiderte ich.
Sergej verließ kurz den Raum, um heißes Wasser aus der Küche zu holen, und bald darauf saßen wir uns Kaffee schlürfend gegenüber.
»Dima«, begann Sergej und sah mich unerwartet ernst an, »glaubt ihr denn bei euch auf der Insel wirklich daran, dass ihr mit eurer Konföderation Erfolg haben werdet und eines Tages nach Hause zurückkehren könnt?«
Das war eine schwere Frage, denn die Erfolgschancen der Konföderation waren bei uns eigentlich nie ein Gesprächsthema gewesen. Bei den Verhandlungen am Strand hatte ich Sergej erzählt, aus welchem Grund wir zu den nördlichen Inseln aufgebrochen waren.
»Ich weiß nicht recht«, antwortete ich zögerlich. »Natürlich glauben wir, dass wir eine Chance haben. Sonst könnten wir es ja gleich bleiben lassen.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte Sergej grinsend. »Ich denke, man könnte auch gewissermaßen Konföderation ›spielen‹, mehr so aus Langeweile, weil einem das bisherige Spiel schon zum Hals heraushängt. Oder auch weil man in der Konföderation sicherer ist. Das heißt noch lange nicht, dass man auch an einen letztendlichen Erfolg glaubt.«
»Philosoph!«, sagte ich ironisch. Das war vielleicht etwas unklug von mir, denn Sergej war hier der Herr im Haus und ich nur ein Gast, noch dazu ein ungebetener.
Zum Glück reagierte Sergej nicht beleidigt.
»Tja, was bleibt einem hier schon anderes übrig, als zum Philosophen zu werden«, sagte er seufzend. »Auf unserer Insel ist es ziemlich ruhig. Und dem Präsidenten ist es laut Verfassung untersagt, sich an den Kämpfen zu beteiligen.«
»Du bist Präsident?«, fragte ich und starrte ihn mit offenem Mund an.
»Ja. Vor zwei Monaten wurde ich für eine weitere dreijährige Amtszeit wiedergewählt. Was wundert dich daran?«
»Ach … nichts.«
»Siehst du, das ist das kleine Geheimnis der Inseln«, sagte Sergej und setzte abermals ein breites Grinsen auf. »Warum sind auf den meisten Inseln Fremde an der Macht?«