Während Tom und Timur grummelnd und gähnend aus ihren Betten krochen, ging ich zum Fenster hinüber. Gemessen an unserer Insel mit ihrem dürren Buschwerk und verbranntem Gras, war die Insel der Franzosen der reinste Urwald. Der Raum, in dem man uns untergebracht hatte, befand sich im obersten Stockwerk eines der Burgtürme, dennoch war der Blick aus dem Fenster durch riesige Bäume verstellt. Als ich vorsichtig die Läden öffnete, sank ein biegsamer grüner Zweig auf das Fensterbrett herab. Durch seine Blätter hindurch schimmerte das Meer.
»Mann, was die hier für eine frische Luft haben«, hörte ich hinter mir Timur sagen. »Wir sollten sie fragen, ob sie uns nicht ein paar Kubikmeter davon abgeben.«
»Gute Idee«, pflichtete ich ihm bei. »Wir stecken sie in einen großen Sack und nehmen sie mit.«
Über eine Wendeltreppe, die sich wie ein Bohrer durch den gesamten Turm wand, stiegen wir zum Hauptgebäude hinunter. Die Treppe war so eng, dass wir geduckt und hintereinander gehen mussten. Und es fiel nur wenig Licht durch die schmalen Schießscharten. Timur, der sich vorneweg durchs Dunkel tastete, blieb mit seinen sperrigen Schwertern ständig an Mauervorsprüngen hängen und kommentierte diese belanglosen Pannen mit unsäglichen Flüchen.
Was wohl aus Timur geworden wäre, wenn … Oder besser gesagt, was würde wohl aus seinem Doppelgänger auf der Erde werden? Womit war er wohl gerade beschäftigt?
Und womit war ich selbst wohl gerade beschäftigt? Als ich mir diese Frage stellte, biss ich mir unwillkürlich auf die Lippe.
Am Ende der Treppe angekommen, gelangten wir in einen hellen Gang, der zum Speisesaal führte. Es war nicht besonders schwierig, sich in der fremden Burg zu orientieren, da sie zwar in vielen Details von der unseren abwich, aber im Wesentlichen doch sehr ähnlich aufgebaut war.
Wir kamen rechtzeitig zum Frühstück. Die Mädchen holten gerade die Lebensmittel aus einem Schrank hervor, und mir fiel auf, dass das Versorgungssystem genau dasselbe war wie bei uns. Selbst der Schrank, in den die Lebensmittel jede Nacht teleportiert wurden, war eine genaue Kopie desjenigen in unserer Burg.
Als Gast war Inga natürlich vom Tischdecken befreit, und es war ihr anzumerken, dass sie dieses Privileg genoss. Entspannt am Tisch sitzend, plauderte sie mit Sergej. Im Speiseraum waren noch drei weitere Jungen von der Gastgeberinsel, die uns ein bisschen misstrauisch beäugten, als wir zu viert zur Tür hereinkamen. Natürlich wäre es leichtsinnig gewesen, uns völlig unbeaufsichtigt in der Burg zurückzulassen.
Vier Jungen waren also in der Burg geblieben, während die Übrigen die Brücken bewachten. Die Übrigen? Das hätte ja bedeutet, dass sie zu sechst drei Brücken bewachen mussten. Zu zweit einen ganzen Tag lang eine Brücke zu halten war eine fast unmögliche Aufgabe!
Die Situation machte mich stutzig. Entweder die Franzosen hatten uns irgendetwas verheimlicht, oder uns war selbst etwas Wichtiges entgangen.
Sergej winkte mir freundlich zu, mechanisch winkte
Als ich einen fragenden Blick von Inga auffing, hielt ich es nicht mehr aus: »Sergej, haltet ihr zu zweit auf den Brücken Wache?«
Nachdem er meine Frage ins Französische übersetzt hatte, tauschte Sergej ratlose Blicke mit seinen Gefährten und zuckte mit den Achseln. Dann begriff er plötzlich, was mich stutzig gemacht hatte. »Nein, nein, wir haben nur zwei Brücken«, sagte er. »Die dritte wurde vor langer Zeit gesprengt.«
Die in der Mitte zerstörte Brücke bestand überhaupt nicht aus Marmor!
Als ich auf allen vieren bis zur Abbruchstelle vorgekrochen war, bot sich mir ein merkwürdiges Bild. Die Bruchkante verlief tief gezähnt, als hätte ein Monster davon abgebissen. Viel erstaunlicher jedoch war die Beschaffenheit der Bruchfläche: Unter der rosaroten Marmorfassade befand sich kein Steinmaterial, sondern ein Konglomerat aus winzigen grauen Kügelchen, die wie Styropor zusammengeklebt schienen. Das Geräusch, das entstand, als ich neugierig mit dem Schwert dagegen klopfte, klang allerdings nicht hohl, sondern ganz so, wie man es beim Klopfen auf Stein erwartet hätte.
»Angeblich ist das kurz nach dem Krieg passiert«, sagte Sergej. »Damals landete wohl einer auf der Insel, der auf einer Kiste Dynamit saß.«
»Und sie haben nie versucht, die Brücke zu reparieren?«, erkundigte ich mich.
»Die Außerirdischen? Nein.«
Ich blickte nach unten und glaubte, durch das tiefe Blau des Meeres hindurch rosa-graue Steinbrocken schimmern zu sehen.
Die Bewohner der Kleinen Bastion hatten es wahrlich nicht schlecht getroffen. Ihre Insel war ein kleines Schmuckstück, und sie mussten viel weniger kämpfen als wir. Die »feindliche« Hälfte der Brücke, die zur Insel Nr. 6 gehörte, war etwa zwanzig Meter entfernt und somit unerreichbar.
»Anscheinend gab es damals überhaupt viele Waffen auf den Inseln«, erläuterte Sergej. »Die Jungen, die aus Europa auf die Inseln kamen, vor allem die aus Frankreich, Deutschland und Russland, waren oft bewaffnet. An Einschusslöchern in der Burgmauer kann man noch genau sehen, dass hier mal ziemlich viele Kugeln durch die Gegend gepfiffen sein müssen.«
»Und die Außerirdischen haben nicht eingegriffen?«, fragte ich verwundert.
Sergej beugte sich über den abgesprengten Rand der Brücke und blickte nachdenklich hinab. »Soweit ich weiß, nicht. Die Sache hat sich wohl von selbst erledigt, als die Patronen zu Ende waren.«
»Wozu brauchen sie uns dann überhaupt, wenn ihnen völlig schnuppe ist, was wir so treiben?«, dachte ich laut nach.
Sergej wusste keine Antwort. Meine Weggefährten und einige der Franzosen standen ein paar Meter hinter uns. Es war nichts für schwache Nerven, hier oben herumzuturnen, denn auch die Brückenbalustrade war
»Weißt du, was«, sagte Sergej schließlich. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass die uns einfach vergessen haben.«
Die Abreise von der Insel hatten wir für den Nachmittag geplant. Zusammen mit Timur und dem kleinen André, der sich als Exkursionsführer angeboten hatte, unternahm ich nach dem Frühstück einen Spaziergang im Wald.
Die Bäume, die hier wuchsen, waren nicht »irdisch«, jedenfalls hatte ich noch nie solche Bäume gesehen. An einigen von ihnen hingen winzige, kirschähnliche Früchte. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und stopfte mir ein paar davon in die Hosentasche. Es war zwar unwahrscheinlich, dass diese stattlichen Gewächse auf dem sandigen Boden unserer Insel gedeihen würden, aber wer weiß, dachte ich mir, ausprobieren kostet bekanntlich nichts. Wie André mir erklärte, waren die Früchte ungenießbar, dafür waren die Bäume mit wunderschönen rosa Blüten geschmückt. Ich wollte schon nach einem in Reichweite hängenden Ast greifen, um einen blühenden Zweig für Inga abzupflücken, doch dann war es mir irgendwie peinlich, und ich ließ es bleiben.
Timur hatte keinen Blick für die Naturschönheiten der Insel, oder besser gesagt: Er hatte einen ganz speziellen Blick dafür. Aus dichten Stauden schnitt er mit dem Schwert einige kräftige, biegsame Ruten heraus. »Ich werde mir einen Bogen bauen«, erklärte er begeistert.
Nachdem uns André eine halbe Stunde lang über gewundene Pfade durch die üppige Vegetation geführt
Nichts Böses ahnend, kehrten wir gegen Mittag zur Burg zurück. Der Wind stand günstig, und nur die Tatsache, dass wir alle schon wieder Hunger verspürten, hielt uns davon ab, sofort aufzubrechen.
Die Schwierigkeiten erwarteten uns am Ufer, das der Burg zu Füßen lag, und zwar ausgerechnet in Person von Janusch und Inga. Janusch schaute betreten drein, Inga irgendwie beleidigt und ein bisschen traurig. Etwa zehn Meter von ihnen entfernt stand Marek an einen Baum gelehnt. Als wir näher kamen, flüsterte Janusch Inga schnell etwas zu, woraufhin sie nickte, ihn jedoch nicht anblickte.