Widersprechen konnte ich nicht, denn Inga hatte recht: Janusch hatte sich ständig Sticheleien gefallen lassen müssen, und auch ich war an den Späßen auf seine Kosten nicht unbeteiligt gewesen. Außerdem hatten wir ihm oft vorgehalten, er sei nur deshalb so schweigsam, weil er zu faul sei, Russisch zu lernen. Und dass bei seinen sprachlichen Verrenkungen alle Umstehenden regelmäßig in Gelächter ausbrachen, war vielleicht nicht böse gemeint, aber vermutlich trotzdem kränkend für ihn.
Kaum merklich wiegte sich unser Boot auf dem Wasser. Die Kerze auf dem kleinen Kajütentischchen flackerte im Rhythmus der schaukelnden Bewegung und ließ die verzerrten Schatten unserer Köpfe gespenstisch an den Bretterwänden umhertanzen. Auf unsere Lider legte sich bleischwere Müdigkeit, und ein Besatzungsmitglied nach dem anderen verschwand in seine Schlafstatt.
Als Letzter kroch ich in meine Koje, streckte die Hand aus und drückte die Kerze zwischen meinen mit Spucke befeuchteten Fingern aus. Mit einem kurzen, dumpfen Zischen verlosch die Flamme. Für diese Nacht verzichteten wir auf einen Wachposten an Deck, ohne dass wir darüber gesprochen hatten.
»Gute Nacht«, flüsterte ich in die plötzliche Finsternis.
»Gute Nacht«, gab Inga zurück. »Ein bisschen Wind morgen früh könnte nicht schaden.«
Bis zum Mittag herrschte völlige Windstille. Wir schlugen die Zeit tot, indem wir in der Sonne dösten, uns mit Hechtsprüngen über Bord erfrischten, Tom ein paar neue russische Ausdrücke beibrachten und uns als Fischer versuchten. Hinterher konnte Tom den komplizierten Satz »Im Namen der Konföderation, werft die Waffen weg!« unfallfrei aussprechen, und Timur hatte ein sage und schreibe fünf Zentimeter langes Fischlein gefangen.
Als die Tatenlosigkeit uns ernstlich anfing, auf die Nerven zu gehen, erhob sich ein schwacher Wind. Zu unserer Überraschung machte Tom keinerlei Anstalten, das Segel zu setzen. Stattdessen erklärte er uns in seinem mit englischen Worten durchsetzten gebrochenen Russisch, dass der Wind aus der falschen Richtung wehe und er zwar auf einer Jacht gegen den Wind kreuzen könne, nicht aber auf einem »schwimmenden Waschzuber mit Leintuch«. Diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung hatte sich Sershan für die Aliens Nightmare ausgedacht, als er nach sechsstündigen Schleifarbeiten wunde Finger hatte und nicht besonders gut auf das Boot zu sprechen war. Tom äußerte sich zum ersten Mal so abschätzig über sein »Baby«. Offensichtlich wurmte es ihn, dass sich der schwimmende Waschzuber nicht so steuern ließ wie das moderne Boot, das er von zu Hause gewohnt war.
Etwa seit einer halben Stunde trieb die Aliens Nightmare in den immer höher werdenden Wellen, ein Zustand, der für uns noch wesentlich frustrierender war
Von Osten her schob sich eine mächtige, violettgraue Wolkenwand heran und stülpte dem Archipel Insel für Insel ihren finsteren Schatten über. Auf der Oberseite der Wand schossen gewaltige, quellende Gewittertürme in die Höhe, während sich von der Unterseite bis zur Meeresoberfläche ein gelblicher Schleier spannte, wie man ihn nur vor schweren Gewittern beobachten kann. Die Ränder der heranstürmenden Wolkenberge glühten orangerot, als ob dahinter ein Feuer brennen würde. In das Gewittergelb mischten sich graue Regenschleier, während aus der schwarzen Wolkenmasse erste Blitze aufs Wasser herab zuckten. Sekunden später hörte man in der Ferne verhaltenes Grummeln.
»Sieht nach einem Sturm aus«, sagte ich überflüssigerweise.
Minutenlang standen Tom und ich nebeneinander vor der Kajüte und beobachteten das Spektakel am östlichen Himmel. Als ich mich gegen die Kajütenwand lehnte, bemerkte ich, dass sie bedrohlich nachgab. Wie konnte man sich nur auf einem derart notdürftig zusammengezimmerten Kahn aufs Meer hinauswagen? Was waren wir für Narren!
Der nächstliegende Schritt wäre nun gewesen, umzukehren und wieder die Insel Nr. 4 anzusteuern. Leider führte für uns kein Weg dorthin zurück, denn der Wind trieb unser Boot gnadenlos nach Westen auf eine kleine Insel zu, die mit niedrigem Buschwerk und einzelnen Baumgruppen bewachsen war. Das Eiland hatte die Form eines Halbmondes, und an seinem entfernten Ende erhob sich eine schwerfällig wirkende Burg, die an ihren
Tom zog unsere selbst gezeichnete Karte hervor und breitete sie aus. Der stärker und stärker werdende Wind zerrte wütend daran,während die ersten Wasserfontänen über die Bordwand spritzten. Leider mussten wir feststellen, dass uns über die Insel, auf die wir zutrieben, nichts bekannt war. Westlich davon folgten noch zwei weitere unbeschriebene Inseln und dann der offene Ozean.
Mit sorgenvoller Miene blickte Tom zum Himmel. »Sehr schlecht. Very bad.«
»Wir müssen wohl oder übel an dieser Insel anlegen«, sagte Timur achselzuckend. »Was denkt ihr?«
Es blieb keine Zeit, die Lage groß zu diskutieren. Als wir das Segel gesetzt hatten, tat die Aliens Nightmare einen gewaltigen Ruck und schoss sofort wie eine Rakete über das Wasser. Tom, inzwischen klatschnass, klammerte sich fest ans Steuerrad, um den Kurs zu halten. Das Anlanden auf der Insel Nr. 4 war noch ein Kinderspiel für ihn gewesen, aber dieser mit Macht einsetzende Sturm stellte seine Segelkunst auf eine harte Probe.
In atemberaubendem Tempo hielt unser Boot auf die fremde Insel zu, an deren Ufern immer noch niemand zu sehen war. Angestrengt beobachtete ich die Brückenbögen, die im Moment noch wie Regenbögen vor den dunklen Wolkenmassen leuchteten. Wenn auf diesen Brücken jemand Wache hielt, musste er uns längst bemerkt haben. Aber weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Etwa hundert Meter vor der Insel holten Timur und ich auf Toms Anweisung das Segel ein. Die Aliens Nightmare war nun ein Spielball der aufs Ufer zurollenden Wellen,
Timur war gerade über Bord gesprungen, um das Boot weiter ans Ufer zu bugsieren, als der nächste gewaltige Brecher es erneut anhob und zehn Meter weiter zum Strand schleuderte, wo es etwas zur Seite geneigt liegen blieb. Fluchend watete Timur durch die schäumenden Fluten hinterher.
Nachdem ich mein am Gürtel baumelndes Schwert zurechtgerückt hatte, sprang ich über die Bordwand ans Ufer, drehte mich um und streckte Inga die Hand hin, um ihr herunterzuhelfen. Mich ignorierend, zog sie es jedoch vor, selbstständig auszusteigen und landete prompt in der nächsten Welle, die sie schmatzend in die Horizontale beförderte.
Beleidigt und schadenfroh wandte ich mich ab und sah mich am schmalen Strand um, der von feinem Kiesel bedeckt war. Etwa zehn Meter vom Wasser entfernt war die Insel dicht mit niedrigen, stacheligen Sträuchern bewachsen. In der Ferne ragten die breiten Türme und das Gemäuer der Burg empor, die alle paar Sekunden in den ständig über den Himmel zuckenden Blitzen grell aufleuchtete.
»Hilf uns gefälligst, Dima!«, schnauzte mich Inga von hinten an.
Zu viert zogen wir die Aliens Nightmare weiter ans Ufer, wobei die Bordwände jämmerlich knirschend über die spitzen Kiesel scheuerten. Danach befestigte Tom das Tau mit dem Anker geschickt an einem der wuchtigen
Es war ein trostloser Anblick: steiniger, ausgemergelter Boden, beinahe laubfreies, dorniges Buschwerk, vom Wind zerzauste, verkrüppelte Bäume und, wo man auch hinsah, Felsblöcke und gestaltlose graue Erdhügel.
»Es würde mich nicht wundern, wenn die Bewohner hier alle an Schwermut zugrunde gegangen wären«, sagte ich und sprang vom Felsen auf den harten Boden herunter.
Timur stand immer noch auf seinem Aussichtspunkt und spähte misstrauisch in die Umgebung. Die Schwerter in seiner Hand glänzten nicht nur metallisch, sondern flimmerten geradezu in einem blendenden hellblauweißlichen Licht. Die hinter uns auflodernden Blitze spiegelten sich in den Stahlklingen.
»Für gewöhnlich stirbt man aber nicht an Schwermut«, entgegnete er mit finsterer Miene. »Eher im Gegenteil.«