Ich öffnete die Augen. Der japanische Junge hielt sich die Hände an die Brust und stürzte auf mich herab. Zwischen seinen zusammengekrampften Fingern sah ich für einen Moment das kleine Einschussloch, aus dem ein pulsierender Blutstrahl schoss.
Mit letzter Kraft rollte ich mich zur Seite, und neben mir schlug der leblose Körper des Jungen auf den Boden. Mühsam den Kopf hebend, sah ich mich um.
Tom stand nur ein paar Schritte von mir entfernt, die Beine gespreizt, die Arme nach vorn gestreckt. Mit der Linken stützte er die rechte Hand, in der er eine mattschwarze, kleine Pistole hielt. Aus dem Lauf quoll graublauer Rauch.
3
BESUCH BEIM VERRÜCKTEN KAPITÄN
Unter dem Eindruck von Toms Schuss entschlossen sich unsere Gegner zum schnellen, aber geordneten Rückzug. Dicht aneinandergedrängt, tauchten ihre schwarzen Silhouetten ins Gebüsch, dessen Zweige sich raschelnd hinter ihnen schlossen. Das Gewitter hatte sich zu einem lodernden, grollenden Inferno verstärkt, und der Wind schien aus allen Richtungen gleichzeitig über die Insel zu fegen.
Timur rappelte sich hoch und hielt sich mit der Linken den rechten Oberarm.
»Haben wohl Schiss bekommen, die Dreckskerle«, knurrte er und ging auf Tom zu, der immer noch wie angewurzelt dastand und seine Pistole anstarrte. »Wo hast du denn die her?«
Tom antwortete nicht. Mit versteinertem Gesicht ließ er seine Waffe sinken, die wie eine jener harmlosen Spielzeugkanonen aus Plastik aussah, mit denen als Cowboys verkleidete Buben in der Faschingszeit kleine Mädchen und Senioren terrorisieren. An der Echtheit dieser Pistole konnte jedoch kein Zweifel bestehen, denn wenige Meter von Tom entfernt lag der tote Junge auf dem Boden.
Timur nahm Tom die Waffe aus der Hand und inspizierte sie seelenruhig, als bemerkte er nicht, dass Blut in dickem Strom aus seinem Arm quoll. Dafür bemerkte es Inga, die zum Glück unversehrt aus dem Gefecht mit
Mich fröstelte ein wenig, und in meinem Kopf wummerte der Schmerz wie eine schwere, zwischen den Schädelknochen rotierende Bleikugel. In rascher Folge lohten Blitze über den schwarzen Himmel, und die einzelnen Donnerschläge verschmolzen zu einem gewaltigen, ununterbrochenen Grollen, während der heulende Wind mir die ersten schweren Regentropfen ins Gesicht peitschte. Gedankenfetzen spukten durch meinen Kopf, um sich alsbald in den hämmernden Schmerzen und im apokalyptischen Lärm der Elemente wieder aufzulösen.
Inga und Tom zogen mich hoch und stellten mich vorsichtig auf die Beine. Mein Blick traf auf Ingas riesige, glänzende Augen, die mich aus ihrem verschreckten, nassen Gesicht anstarrten. Weinte sie, oder kam das vom Regen?
»Dima … Dimotschka, was ist mit dir?«
»Nichts, alles in Ordnung«, presste ich hervor und versuchte, meinen jämmerlichen Zustand zu überspielen. Ich bückte mich sogar nach meinem am Boden liegenden Schwert, doch Tom kam mir zuvor und hob es für mich auf. Inga schaute mich prüfend an, ihr konnte man nicht so leicht etwas vormachen.
»Was stehen wir hier blöd rum?«, schrie Timur plötzlich wie aus heiterem Himmel. »Wollt ihr etwa warten, bis sie mit Verstärkung wiederkommen?«
»Bei dem Sturm können wir doch nicht weg«, entgegnete
Timurs Gesicht verzog sich zu einer zornigen Maske. »Sie sind nicht geflohen!«, donnerte er. »Ihr Ehrenkodex verbietet es ihnen, wegzulaufen. Sie haben sich zurückgezogen, ja, aber es wird nicht lange dauern, dann sind sie wieder zurück.«
»Was für ein Ehrenkodex denn? Wovon sprichst du, Tim?«, fragte Inga entgeistert.
»Stellt keine dummen Fragen, ich erklär’s euch später. Helft mir jetzt, den Kahn wieder flottzumachen!«, herrschte Timur uns an, rannte zum Ufer und stemmte sich mit brachialer Gewalt gegen die Bordwand unseres Schiffs. Der Effekt war gleich null, denn es war ja vertäut. Tom eilte ihm kopfschüttelnd zu Hilfe.
»Inga, halt die Augen auf und warne uns, wenn du jemanden siehst«, rief ich ihr zu, während ich mit einem Schnitt das straff gespannte Tau unseres selbst gebauten Ankers kappte, der ohnehin nur ein besserer Angelhaken war und uns bisher nicht viel genützt hatte. Mir war klar, dass jede Sekunde zählte, denn Timur war nicht der Typ, der grundlos in Panik verfiel.
Zu dritt schleppten wir die Aliens Nightmare in die brodelnde Suppe aus Wasser, Schaum und vom Grund aufgewirbeltem Sand. Kaum hatte das Boot die ersten Wellen unter dem Kiel, begann es heftig zu schwanken und drehte sich mit der Breitseite in den Wind. Bis über die Hüfte im Wasser watend, konnten wir nur mit vereinten Kräften verhindern, dass die Brandung uns das Boot aus den Händen riss und es wieder zurück an den Strand warf.
»Inga!«
Wie gebannt ins Gebüsch starrend, lief Inga langsam rückwärts ins Wasser. Als sie mit dem Rücken gegen meine Schulter stieß, sagte sie leise: »Dima, dort ist jemand. Ich hab’s genau gesehen.«
Das Boot lag in diesem Moment zwischen zwei Wellen einigermaßen ruhig, daher packte ich Inga unter den Knien und um die Schulter und hob sie über die Bordwand an Deck. Sie war so perplex, dass sie nicht einmal protestieren konnte.
Als ich selbst an Bord geklettert war, stand Tom bereits hinter dem Steuerrad, und Timur zog mit wirbelnden Händen an der Leine, um das Segel zu setzen.
»Tim, warte«, rief ich ihm zu und schob mich, gegen den Sturm ankämpfend, zu ihm hinüber. »Das bringt nichts, der Wind ist zu stark.«
Timur fuhr zu mir herum und durchbohrte mich mit weit aufgerissenen Augen.
»Hilf mir gefälligst!«, brüllte er mir ins Ohr. »Wir kommen sonst nicht lebend von hier weg. Mach schon!«
Stöhnend vor Anstrengung, befestigten wir das heftig schlagende Segel mit den Schoten.
Tom hatte keine Chance, das Steuerrad zu halten. Die Aliens Nightmare trieb führungslos am Ufer entlang und entfernte sich dabei nur quälend langsam von der Insel, während ein Brecher nach dem anderen über die Bordwand schwappte. Ohne die von Tom akribisch abgedichtete Deckbeplankung wäre das Schiff längst vollgelaufen und gesunken.
Nachdem das Segel fixiert war, krochen Timur und ich auf allen vieren zur Kajüte. Dort hatte sich Inga an die Bretterwand gekauert, um nicht von einer Welle über Bord gespült zu werden.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, als wir völlig außer Atem bei ihr ankamen.
Timur machte eine wegwerfende Handbewegung, die allerdings nicht sehr überzeugend geriet, da sich gleichzeitig sein mit Blut und Wasser durchtränkter Verband löste und das Ende der Binde in der Luft wedelte.
»Wir müssen unbedingt deinen Verband wechseln«, rief Inga entsetzt.
»Wozu denn?«, erwiderte Timur stoisch.
Während die schäumenden Wellen pausenlos wie salzige Duschen über uns hereinbrachen, prasselte nun auch noch sintflutartiger Regen auf uns herab.
Inga saß, die Arme um die Beine geschlungen, zwischen mir und Timur. So war die Gefahr, dass sie von Bord gespült wurde, relativ gering. Zusätzlich war Timur die geniale Idee gekommen, sich lang auszustrecken, die Füße gegen den Mast zu stemmen und sich mit der Schulter an der Kajütenwand abzustützen. Ich tat es ihm gleich, denn in dieser Stellung waren wir ziemlich sicher vor den heimtückischen Wasserfontänen, und Inga konnte sich an uns festhalten.
Die Aliens Nightmare hatte sich etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt, aber im Licht der pausenlos aufflammenden Blitze konnten wir noch deutlich die Gemäuer der fremden Burg erkennen.
»Wie konnte ich das nur vergessen«, sagte Timur schuldbewusst. »Die Insel der Tausend Steine.«
»Woher kennst du sie denn?«, fragte ich neugierig.
Timur kam nicht dazu, mir zu antworten. Über der rechten Bordwand, die sich bis zur Wasseroberfläche abgesenkt hatte, erschien im Licht des nächsten Blitzes plötzlich ein menschliches Gesicht, aus dem uns eisige,