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»Kopf runter!«, schrie Timur.

Während wir uns so tief wie möglich duckten, kippte das Boot auf die andere Seite, und etwas schoss knapp über unsere Köpfe hinweg und bohrte sich mit einem hämmernden Geräusch in die Bretter.

Vorsichtig drehte ich den Kopf nach oben. In der Kajütenwand steckten drei kleine Stahlscheiben, die bis zur Hälfte ins harte Holz eingedrungen waren. Sie maßen etwa fünf Zentimeter im Durchmesser, und ihre Kanten waren scharf wie Rasierklingen.

Den Dolch in der Hand robbte Timur zur Bordwand, wo er aber niemanden mehr entdeckte. Einen Moment lang verharrte er, dann fuhr er herum und schrie: »Tom! Vorsicht!«

Wie als Antwort auf seinen Zuruf fiel ein Schuss.

Und dann noch einer. Und noch einer.

Hinter der Kajüte konnten wir nicht sehen, was sich am Achterdeck tat, und sich bei diesem Sturm dort hinzuwagen wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Sekunden später wurden alle weiteren Geräusche vom ohrenbetäubenden Dröhnen des Donners übertönt.

Als der Lärm endlich nachließ, in ein Grummeln überging und wir wieder das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes vernahmen, schrie Inga verzweifelt: »Tom!«

»All right!«, antwortete endlich unser Kapitän.

Die nächste an Deck klatschende Welle nahmen wir überhaupt nicht wahr. An den Mast, an herumhängendes

»Guter Junge«, rief Timur erleichtert.

Wir hatten gut daran getan, uns nicht in die Kajüte zu verkriechen. Nachdem wir etwa zwei Stunden durch den Sturm getrieben waren, hielt sie den Böen nicht länger stand und stürzte ein.

Zuerst barsten die Bretter der Seitenwände, dann stürzte wenig später die ganze Kajüte wie ein Kartenhaus zusammen. Herumfliegende Splitter zerkratzten mir die Schulter.

Der Wind ließ nicht für einen Augenblick nach. In seiner apokalyptischen Monstrosität hätte dieser Sturm auf den Vierzig Inseln einem Gemälde von Iwan Aiwasowki alle Ehre gemacht. Im Sekundentakt flammten Blitze auf, und um unser Boot herum türmten sich gischtschäumende Wellenkämme empor. Es schien unausweichlich, dass uns früher oder später eines dieser wogenden Wassergebirge unter sich begraben würde. Die Zeit indes verrann, und unser Boot hielt sich verbissen über Wasser. Man hätte meinen können, auf der Aliens Nightmare liege ein geheimnisvoller Zauber. Wie über dem Schiff des Verrückten Kapitäns.

Bei diesem Gedanken suchte ich unwillkürlich den Horizont ab. Das Wetter war ideal für den Klipper des abtrünnigen Seemanns. Doch vorläufig waren wir allein auf dem Meer.

Wind und Strömung trieben uns in einer gigantischen Schleife um den gesamten Archipel herum. Dass wir auf diese Weise im Kreis fuhren, wurde mir klar, als ich bemerkte, dass die dunklen Schatten der Inseln immer auf

Wir hatten schon mehrere Inseln passiert, und wenn ich richtig orientiert war, mussten wir in Kürze an der Insel Nr. 4 vorbeikommen. Über den Bretterhaufen unserer ehemaligen Kajüte hinweg spähte ich aufs Achterdeck zu Tom hinüber. Unser Kapitän war schon längst nicht mehr Herr seines Schiffs. Er war nur dort geblieben, weil es reichlich riskant gewesen wäre, in den schweren Orkanböen zu uns nach vorn zu kommen. Das Steuerrad hatte er losgelassen. Wie von Geisterhand bewegt, drehte es sich knarrend hin und her. Als Tom meinen Blick auffing, schüttelte er resigniert den Kopf, wie um mir zu sagen, dass es unmöglich sei, eine der Inseln anzusteuern.

Wenigstens gingen wir nicht unter!

Unsere heroische Fahrt glich mehr und mehr einer Parodie. Um uns herum heulte schauerlich der Sturm und jagte ausgefranste Wolkenberge über den Himmel. Grelle Blitze züngelten aufs Meer herab. Die unentwegt heranrollenden Wellenbrecher waren von geradezu biblischem Ausmaß, sodass es kein Wunder gewesen wäre, hätten sie die Burgen mitsamt ihren Bewohnern einfach von den Inseln gespült.

Trotz des gewaltigen Infernos blieben wir nahezu ungeschoren, wenn man einmal darüber hinwegsah, dass wir im strömenden Regen und den ständig über Bord schwappenden Wellen langsam aufzuweichen begannen. Unter Deck plätscherte Wasser, das an der Stelle in den Schiffsbauch eindrang, wo unsere Kajüte zusammengebrochen war.

Wenn ich auch nicht viel Ahnung hatte von der Seefahrt, so war eines doch völlig klar: In einem so mörderischen

»Dima!«

Inga sah mich schweigend an. Die nassen, zerzausten Haare hingen ihr in Strähnen übers Gesicht.

»Was ist?«

»Gib mir deine Hand!«

Fest schloss Inga ihre Hand um meine Finger und wandte sich wieder ab. Für einen Augenblick verstand ich nicht, was geschah. In mein Bewusstsein sickerten nur lose Details: ihre schmalen Schultern, auf denen das durchnässte T-Shirt klebte; die Windjacke, die sie zusammengerollt und um den Bauch gebunden hatte; ihre angewinkelten Beine, die sie gegen das in die Deckplanken gerammte Schwert stemmte. Dann begriff ich.

»Hab keine Angst, Inga«, flüsterte ich und spürte, wie Melancholie und Zärtlichkeit sich in meine Stimme legten. »Hab keine Angst.«

Sie rückte näher an mich heran und legte den Kopf an meine Schulter. Noch fester hielt sie meine Hand.

»Dima, lass mich nicht allein...«

Angesichts der Lage, in der wir uns befanden, war diese Bitte gewissermaßen absurd, denn wie hätte ich sie mitten auf dem Meer verlassen sollen? Trotzdem erlaubte ich mir nicht einmal den Ansatz eines Lächelns.

»Natürlich nicht, Inga... Ingulja... Ich bin ja da.«

Meine Lippen waren nahe daran, etwas so Unvorstellbares und Verrücktes zu flüstern, wie man es nur in einem solchen Moment aussprechen konnte, da unser Schicksal an einem seidenen Faden hing und die Worte im Donnern der Wellen untergingen.

»Hab keine Angst... Du siehst ja, es passiert uns nichts.«

Sie reckte ein wenig den Kopf, und unsere Blicke trafen sich wie damals auf der Brücke, als wir einander erkannt hatten.

»Inga...«

Mein Herz hämmerte bis zum Hals, ich konnte nicht weitersprechen, und die Worte, die mir auf der Zunge lagen, gerannen zu einem wirren Gedankenstrom.

Ich bin froh, dass du bei mir bist. Es ist niederträchtig, aber ich bin froh, dass du auf die Insel geraten bist. Ich bin ein mieser Egoist, aber ich bin glücklich, dass du mit mir in diesem verwunschenen Nachen hockst. Du weißt, dass ich glücklich darüber bin, und wirst es mir verzeihen. Denn es geht dir genauso.

»Der Sturm wird vorbeigehen, und ich werde es wieder nicht gesagt haben...«, hauchte ich stimmlos.

»Ich verstehe nichts!«, flüsterte Inga und wiegte fragend den Kopf.

»Ich weiß«, sagte ich, ohne die Stimme zu heben. »Ingulja, dein Name ist wie ein Stück Eis, durchscheinend und schneidend kalt. Ich habe Angst, ihn wärmer zu machen, als ob er schmelzen könnte. Glaub mir, wir kommen hier raus, aber dann werde ich wieder verstummen. Nur deswegen rede ich jetzt, weil du nichts verstehst.«

»Ich verstehe dich«, flüsterte sie. »Aber sprich trotzdem weiter.«

Mein Körper begann zu zittern. Natürlich verstand sie mich, unsere Gesichter berührten sich ja fast. Oder das, was ich gesagt hatte, konnte von keinem noch so lauten Geräusch übertönt werden.

In meinem Augenwinkel erhob sich die schwarze Wand der nächsten Monsterwelle, die sich auf unser Boot zuwälzte. Doch anstatt im Schlund des Ungetüms zu verschwinden, machte die Aliens Nightmare einen Satz nach oben, und schon im nächsten Moment bäumte sich der schaumige Wasserrücken hinter dem Achterdeck, während wir sanft hinabglitten. Es war einfach unglaublich. Für einige Sekunden sah ich der davonrollenden Riesenwalze hinterher, deren Grollen noch über unserem Deck waberte.

Dann, als ich mich wieder nach vorn wandte, gefror mir das Blut in den Adern: Aus den Wellengebirgen erhob sich ganz langsam, die weißen Segel stolz gebläht, der Klipper des Verrückten Kapitäns.