Maljok zuckte mit den Achseln. »Noch keine. Die Insel
»Was für Sklaven denn?«
»Na, die Ritter von der Insel Nr. 12. Nachdem wir die Insel erobert hatten, wurden sie unsere Sklaven. Sie mussten für uns kämpfen. Auf die Erde hätten sie sowieso nicht zurückkehren dürfen.«
Schöner Mist! Da hätte ich auch einen Aufstand gemacht. Für jemand anders das Spiel gewinnen und dann auf den Inseln bleiben müssen, so weit kommt’s noch. Mir schossen so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich völlig den Faden verlor und gar nicht wusste, wo ich zuerst nachhaken sollte. Aber Maljok wirkte ohnehin schon etwas genervt von meiner Fragerei.
»Komm, Dima«, sagte er ungeduldig, »gehen wir vor dem Frühstück noch ans Meer zum Baden.«
Ja, das Meer! Jetzt fiel mir wieder ein, wie verlockend es am gestrigen Abend in der untergehenden Sonne geglitzert hatte. Es mochte ja sein, dass diese Insel ein Gefängnis war. Aber das Meer war daran gewiss nicht schuld!
Entschlossen sprang ich aus meinem Bett. »Gehen wir, ich ziehe mir nur was an.«
»Du solltest deine Jeans abschneiden«, riet mir Maljok mit Oberlehrermiene. »Leih dir von den Mädchen eine Schere und mach dir eine kurze Hose draus. Bei der Hitze …«
Eigentlich war das kein schlechter Rat, trotzdem hatte ich keine Lust, ihm zu folgen. Irgendwie ging mir die Idee gegen den Strich, denn es hätte ja bedeutet, dass ich mich damit abfinde, für längere Zeit auf der Insel bleiben zu müssen. Unschlüssig hob ich die Schultern und zog den Gürtel meiner Jeans fest.
»Einen coolen Gürtel hast du da«, flötete Maljok mit Kennerblick.
Was an meinem Gürtel cool sein sollte, erschloss sich mir nicht. Es war ein normaler brauner Ledergürtel, der nicht einmal besonders gut zu meiner abgewetzten Jeans passte.
»Er hat eine schöne schwere Schnalle«, dozierte Maljok. »Wenn dir im Kampf mal das Schwert zerbricht, kannst du dich mit dem Gürtel verteidigen.«
Ich lachte laut auf. Die Schnalle war in der Tat ein Mordinstrument. Selbstverständlich konnte man damit wesentlich heftiger zuschlagen als mit einem dünnen Holzschwert.
Wir verließen unsere Kammer und folgten einem schmalen Gang, der wie die gesamte Burg aus rosa Marmor bestand. Maljok lief voraus, stieß sämtliche Seitentüren auf und kreischte irgendeinen Unsinn hinein. Das waren die Kammern der anderen Jungen, in denen sich jedoch niemand aufhielt.
»Was machen die anderen denn auf den Brücken?«, erkundigte ich mich.
»Sie halten Wache, damit uns keiner angreifen kann«, erwiderte Maljok, der jetzt bestens gelaunt war.
Wir stiegen eine Treppe hinunter, die zu den unteren Räumen führte. Nachdem wir den Thronsaal passiert hatten, gelangten wir am Ende des Gangs zur Küche, deren hölzerne Tür sperrangelweit offen stand.
Maljok steckte den Kopf hinein und trompetete los: »Huhu, Rita, der hungrige Stamm der Wasserindianer geht zum Meer!«
»Geht nur«, gab Rita gelassen zurück. An Maljoks schrilles Organ war sie offenbar schon gewöhnt. »Aber
Inzwischen hatte ich mich neben Maljok geschoben und lugte neugierig in den Raum. Rita stand an einem wuchtigen Holztisch und war damit beschäftigt, Brot aufzuschneiden. Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte zu uns herüber.
»Guten Morgen, Dima!«, rief sie. »Gut geschlafen?«
»Ja danke, guten Morgen«, gab ich etwas schüchtern zurück.
»Macht, dass ihr an den Strand kommt.« Rita strahlte mich an. »Heute ist ja dein erster Tag, Dima, und am ersten Tag hat man traditionell frei.«
»Und ich bin heute als Dimas Begleiter eingeteilt und habe deshalb auch frei!«, verkündete Maljok.
Wir winkten Rita zum Abschied kurz zu und verließen die Burg durch das schwere Eisentor, das beim Öffnen und Schließen jämmerlich quietschte. Augenblicke später tobten wir bereits ausgelassen im warmen, salzigen Meer. Die Vormittagssonne schien kraftvoll vom Himmel und ließ ihr gleißendes Licht auf den Wellen tanzen. Wir blieben so lange im Meer, bis es uns selbst im warmen Wasser kalt wurde und ich mir ernsthaft Sorgen zu machen begann, wir könnten das Frühstück verpassen.
Maljok blickte prüfend zum Himmel. »Dem Sonnenstand nach zu schließen«, schlaumeierte er, »können wir uns locker noch ein halbes Stündchen in der Sonne wärmen.«
Unter der rosa Burgmauer legten wir uns rücklings in den Sand, und zwar so, dass unsere Gesichter im Schatten lagen, während unsere Körper in der Sonne bräunten.
»Wie heißt du eigentlich mit richtigem Namen, Maljok?«, fragte ich.
»Igor. Aber es gibt hier noch drei andere Igors außer mir, da ist der Spitzname ganz praktisch.«
Den Kopf etwas zur Seite gedreht, musterte ich den kleinen Jungen aus dem Augenwinkel. Plötzlich fiel mir auf, dass er genau so aussah, wie ich mir den kleinen Lillebror aus Astrid Lindgrens Karlsson-Büchern immer vorgestellt hatte.
»Hast du Karlsson auf dem Dach gelesen?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.
»Nö«, entgegnete er etwas betreten. »Als ich hier ankam, konnte ich noch nicht lesen. Und hier gibt es diese Bücher nicht. Aber Rita hat mir davon erzählt.«
»Maljok, erklär mir noch mal die Regeln des Großen Spiels«, bat ich.
Mein Begleiter seufzte tief auf, wie ein Lehrer, der es mit einem vollkommen begriffsstutzigen Schüler zu tun hat.
»Also gut. Ziel des Spiels ist es, die anderen Inseln zu erobern.« Maljok sprach etwas gestelzt, wie ein Erwachsener. »Als Waffen werden Schwerter und Dolche eingesetzt. Der Lange Igor hat auch eine Armbrust.«
»Mit Holzpfeilen?«
»Logisch. Man darf sich nicht mit den Rittern einer anderen Insel absprechen und sie absichtlich gewinnen lassen. Und nachts darf nicht gekämpft werden.«
»Warum?«, fragte der begriffsstutzige Schüler.
»Nachts öffnet sich ein Spalt in den Brücken. Verstehst du, die Brücken sind aus einem Stein gemacht, der sich bei Erwärmung ausdehnt. In der Mitte jeder Brücke ist ein Spalt. Wenn sich die Brücken am Morgen aufheizen,
»Und wenn man trotzdem drüberspringt?«, bohrte ich nach.
Maljok sah mich zornig an. »Das ist verboten! Dann wird man bestraft.«
»Von wem?«
Er blickte zum Himmel und sagte widerwillig: »Na, von diesen Außerirdischen eben. Wir hatten einen Jungen bei uns, er hieß Rostik, der hat einmal nach Sonnenuntergang, als der Spalt in der Brücke schon offen war, einen Pfeil abgeschossen. Am selben Abend ist er dann beim Baden im Meer ertrunken.«
Besorgt blickte ich zum Himmel, der sich blau und klar über das Meer wölbte. Es waren weder fliegende Untertassen noch geflügelte Monster zu sehen. Trotzdem hatte ich, wie Maljok wahrscheinlich auch, das Gefühl, dass wir von dort oben beobachtet wurden, von etwas Unsichtbarem und Bedrohlichem. Bis jetzt war ich noch guten Mutes gewesen, schließlich war es ja nur ein Spiel. Viel mehr als ein paar Beulen konnte man mit einem Holzschwert auch nicht anrichten. Aber dieser Rostik war ertrunken. Und weswegen? Wegen einer blödsinnigen Spielregel!
»Und warum darf man bei Sonnenuntergang nicht zum Himmel schauen?«, fragte ich, als mir diese noch viel blödsinnigere Regel wieder einfiel.
»Keine Ahnung«, gab Maljok zu, »aber wenn du es machst, wirst du auf der Stelle blind.«
Das Rauschen der Brandung und die wärmende Sonne waren mir jetzt gründlich verleidet. Wir waren nicht nur auf einer Insel gefangen, es drohte auch noch Unheil von oben. Der feine Sand, auf dem ich eben noch so wohlig gelegen hatte, fühlte sich auf einmal kratzig an und ekelhaft trocken wie schmutziger Straßenstaub. Ich stand auf.
»Los, gehen wir frühstücken«, schlug ich vor.
»Okay«, seufzte Maljok, dessen Laune nun auch etwas getrübt schien.
Auf dem Rückweg wateten wir noch ein Stück durchs seichte Wasser und ließen uns kleine Wellen um die Beine plätschern. Am Grund huschten kleine Fischchen umher.