Das Schiff war riesig, viel größer, als ich es von der Nacht auf dem Wachturm in Erinnerung hatte, und es sah so echt aus, dass mir augenblicklich klar war: Es konnte unmöglich auf den Inseln gebaut worden sein. Sollten sich die Außerirdischen tatsächlich die Mühe gemacht haben, es von der Erde hierher zu schaffen? Und wenn ja, wozu?
»Da ist er!«, rief Timur begeistert. »Jetzt sind wir gerettet!«
Wieso gerettet?
Ergriffen beobachtete ich, wie der scharfe, metallbeschlagene Bug des Schiffs die Wellen durchpflügte. War
Ich weiß es nicht. In den auf den Inseln kursierenden Legenden, Märchen und Träumen wurdest du stets Klipper genannt. Du hast auf deinen Sturm gewartet, auf deinen Orkan, der die grausame, ungerechte Welt auslöschen würde. Als Fata Morgana, als märchenhafte Erscheinung spuktest du in unseren Seelen, die in den steinernen Zellen der Burgen eingesperrt waren. So schlecht es uns auch erging, wir wussten immer: Du bist da. Und so ließen wir den Mut nicht sinken, verließen nicht die Brücken und legten die Waffen nicht nieder. Denn Feiglinge sind dir verhasst. Du nimmst nur die Mutigen bei dir auf. Also auch uns...
Der Klipper segelte auf Parallelkurs und holte uns langsam ein. Er sah genauso aus, wie er in den Legenden beschrieben wurde. In den Bordwänden befanden sich quadratische Luken für die Kanonen. In den Kajüten am Achterdeck brannte schwaches Licht. An Deck lagen mit Segeltuch abgedeckte Beiboote aufgereiht. Als ich bemerkte, dass eines der Beiboote in der Reihe fehlte, kroch mir ein kalter Schauer über den Rücken. Waren wir womöglich mit einem Beiboot dieses Klippers unterwegs?
Tom stieß Freudenschreie aus und rief mit begeisterter Stimme etwas auf Englisch, was wir nicht verstanden. Timur, Inga und ich verfolgten schweigend, wie der Klipper langsam näher kam.
Warum kannst du nicht an einer der Inseln festmachen, Verrückter Kapitän? Wenn die Außerirdischen so mächtig sind, dass sie dich vom Kurs abbringen können, warum versenken sie nicht einfach dein Schiff? Brauchen sie dich womöglich?
Solange in den grauen Wellen die Silhouette deines Klippers aufscheint, solange wir an dich glauben, wird sich das Leben auf den Inseln nicht ändern. Obwohl auf dir die Hoffnung gründet und der Traum von einem neuen Leben, bist du zur Verkörperung eines alten Lebens geworden, zu seinem Gesetz und seiner Religion. Wieso begreifst du diese bittere Wahrheit nicht, Kapitän? Deine Sturheit und dein Wille, dein Hass und deine Liebe - dies alles ist längst zu einem nützlichen Werkzeug der Außerirdischen geworden.
»Tom, versuch, näher ranzukommen!«, schrie Timur zum Achterdeck hinüber.
Kaum mehr als zwanzig Meter trennten uns noch. Ich hatte gehofft, dass uns der Rumpf des großen Schiffs gegen den Wind abschirmen würde, dies war jedoch nicht der Fall. Die Aliens Nightmare wurde herumgeworfen wie zuvor. Mir fiel auf, dass von der Bordwand des Klippers Strickleitern herabhingen, genauer gesagt waren das Sturmleitern, die aus dicken Seilen und Sprossen aus Holz bestanden. An Deck huschten im schummrigen Licht von Laternen einige Schatten umher. Der Verrückte Kapitän hatte seine Fahrt merklich verlangsamt und pflügte jetzt genau neben uns durchs Meer.
»Tom!«
Unser Boot schlingerte kaum merklich, während uns ein Wellenkamm seitlich erfasste und eine kalte Lawine über das Deck spülte. Langsam rückte die vor uns aufragende, gleichmäßig gebogene, mit gelblichgrauen Ablagerungen besetzte Bordwand des Klippers näher.
Wozu brauchen dich die Außerirdischen, Verrückter Kapitän?
Ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Bruchstücke
»Ich gehe ein paar Schritte...«
Ingas Finger legten sich fester um mein Handgelenk. Es nützte nichts. Mich losreißend, hob ich die Arme und streckte sie aus. Vor mir gab es nur Dunkelheit und schwache Lichtschimmer auf dem sich vor uns aufbauenden Schiffsrumpf. Und hinter mir zwei verwunderte Augenpaare, Tom nicht gerechnet, denn der kämpfte selbstvergessen mit dem Ruder.
»Tim, pass auf Inga auf.«
Kopfüber sprang ich ins Wasser, das mich mit eiskaltem Griff umfing und mir sofort in Nase und Ohren drang. Prustend tauchte ich auf. Durch die Wasserpfropfen in meinen Ohren hindurch, die meinen Kopf in einen dumpf dröhnenden Klangkörper verwandelten, drang Ingas Stimme. Es war zu spät, umzukehren. Ich wollte unbedingt als Erster an Bord des Klippers klettern und diesen Menschen sehen, der dort hinter dem Steuerrad stand.
Seltsam - die Wellen, die zuvor noch so furchterregend ausgesehen hatten, erwiesen sich als beherrschbar. Nach ein paar Schwimmzügen erreichte ich schon die Bordwand, an der das ausgefranste Ende der Sturmleiter wie angeklebt schien. Rhythmisch schlugen Wellen gegen den Rumpf und verschwanden wieder, ohne zu spritzen.
Kräftig mit den Beinen rudernd hob ich die Arme aus dem Wasser und versuchte, die raue Bretterwand zu fassen
Meine Hände glitten durch die Bordwand des Schiffs, ohne den geringsten Widerstand zu spüren. Wie durch eine Fata Morgana. Was er in Wirklichkeit ja auch war, der stolze Klipper des Verrückten Kapitäns.
4
DIE GROSSE TÄUSCHUNG
Es ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, wenn die Hände an der Stelle, wo die Augen unbeirrt einen realen, festen Körper sehen, ins Leere greifen. Für einen quälend langen Augenblick schien es mir, als hätte die mit spitzen Bruchstücken von Muschelschalen besetzte, unaufhaltsam auf mich zukommende Bordwand meine Hand einfach abgeschliffen und ausradiert wie Schmirgelpapier. Doch ich fühlte keinen Schmerz, und es floss auch kein Blut, obwohl meine Arme bereits bis zum Ellenbogen in der hölzernen Wand verschwunden waren.
Instinktiv riss ich den Kopf zurück, um mein Gesicht zu schützen, aber das Gespensterschiff glitt bereits durch mich hindurch. Als körperloser Schatten fiel das glitschig schimmernde, zerfurchte und verwitterte Holz auf meine Netzhaut. Die Augen zusammenkneifend und einen Schrei unterdrückend, bemerkte ich, dass ich ins kalte Wasser zurücksank, und begann, wild mit den Armen zu rudern. Durch meine geschlossenen Lider drang ein kaltes bläuliches Licht, wie das gleichförmige Flimmern eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt war. Für Momente tauchte ich in eine atemlose Stille.
Als sich meine Augen wieder öffneten, war ich auf alles gefasst. Es hätte mich nicht gewundert, mich in einem dreckigen Laderaum wiederzufinden, in dem echte Wellen plätscherten und in blaue Flammen gehüllte Gespenster herumspukten, oder in einem silbergrauen,
Die Realität erwies sich als wesentlich einfacher. Sie war allerdings von jener Einfachheit, die heftiger schockiert als irgendeine fantastische Unglaublichkeit. So wie ein stumpfes Taschenmesser in der Hand eines betrunkenen Schlägers mitunter gefährlicher erscheint als ein großkalibriges Maschinengewehr.
Der Klipper leuchtete von selbst, besser gesagt, seine Hülle. Von innen sah sie aus wie ein dünner blauer Film, den man zu einem riesigen Spielzeugschiff aufgeblasen hatte. Über mir, an Deck, liefen ebenso illusorische, »aufgeblasene« Menschen umher. Lasurblau schimmernde Segel wölbten sich im Wind. Aus dem blauen Film geformte Laternen bargen amorphe Klumpen gelben Lichts.
Eine Attrappe! Der Klipper des Verrückten Kapitäns war nichts anderes als eine holografisch dargestellte Attrappe, ein Trugbild, eine elektronische Fata Morgana, ein in eine hübsche Form gegossener Betrug!
In der Mitte des aufgeblasenen Spielzeugs schwamm der Schöpfer des infamen Blendwerks, eine runde Plattform mit einem Durchmesser von fünf Metern, die etwa fünfzig Zentimeter aus dem Wasser herausragte und sich langsam drehte. Ein Hybride aus Spezialschiff und Projektor, ein als antiker Segler getarntes fremdplanetarisches Gerät.
Überwältigt von den Eindrücken, trieb ich in den Wellen dahin und beobachtete, wie die Plattform näher kam. Sie schwamm geradewegs auf mich zu, mechanisch und gleichgültig. Von einem obskuren Programm gesteuert, bewegte sie sich auf einer vorbestimmten Bahn, ja das