Die Aliens Nightmare rückte immer näher.
»Pass auf!«, schrien meine Gefährten so laut, als wäre ich weit entfernt, und ohne die geringste Ahnung davon, in welch tödlicher Gefahr sie selbst schwebten.
Mit einem Ruck zog ich die Klinge aus der klebrigen Masse. Der Stahl meines Schwerts glühte und verkohlte den rosa Schleim, der an ihm haften geblieben war.
Plötzlich hoben sich die gebogenen Rammsporne der Plattform wie Spinnenbeine synchron aus dem Wasser und schwenkten nach innen. Die rotierenden Messer an ihren Spitzen zerschnitten wie Propeller die Luft und verursachten dabei ein helles, markerschütterndes Summen. An einem der in die Luft ragenden Stoßzähne hing als schmutzigweiße Girlande ein menschliches Skelett.
Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu entsetzen. Mit verzweifelten Schlägen hieb ich auf die Sockel zweier
Mit einem Satz sprang ich an den äußersten Rand der Plattform, wo die Aliens Nightmare gerade in unmittelbarer Nähe vorbeiglitt.
»Spring!«, schrie Tom und streckte mir die Hand entgegen.
Sekunden später stand ich an Deck unseres Bootes und beobachtete mit aufgerissenen Augen, wie die heil gebliebenen Spinnenbeine sich ebenfalls auf die Plattform niedersenkten.
»Gut gemacht«, sagte Timur, der sich auf die andere Bordseite geworfen hatte, um die Wucht meines Sprunges auszubalancieren.
Mit unsicheren Schritten torkelte er zurück. Er wirkte ungewohnt schlaff, und seine sonst so gesunde Gesichtsfarbe war einem fahlen Grau gewichen.
»Ist dir schlecht?«, fragte ich.
Timur nickte. Erschrocken stellte ich fest, dass sein Gesicht mit einem Mal blau wurde. Ebenso bei Inga und Tom. Und auch die Planken unseres Bootes waren von einem bläulichen Schein überzogen.
Eine Welle grellen blauen Lichts ergoss sich über uns, und wie aus dem Nichts erhob sich ein warmer Wind. Für einen Augenblick sahen wir noch einmal den Klipper des Verrückten Kapitäns: Als lächerlich kleines, höchstens ein Meter großes Spielzeugmodell hing er über der von rosa-weißem Schaum überzogenen Plattform. Dann ertönte ein dumpfes Plopp, und auch der letzte Überrest
»Wir hatten gedacht, du bist unter das Schiff getaucht«, sagte Inga leise. Ich dachte, sie würde noch etwas sagen, aber sie schwieg.
Stattdessen rief Timur: »Schaut!«
Um uns herum hatte das Meer Feuer gefangen. Auf der Wasseroberfläche züngelten blassblaue Flammen. Es sah aus, als hätte jemand selbst gebrannten Wodka aufs Meer gegossen und ihn angezündet. Schaumflocken, die sich von den Wellenkämmen lösten, verwandelten sich in sprühende Funkenwolken, die nach wenigen Augenblicken verglühten.
Für kurze Zeit war es taghell geworden.
»Die Wunder gehen weiter«, stellte Inga ziemlich ungerührt fest. »Der Klipper hat sich in einen rostigen Metallhaufen verwandelt, und der Sturm...«
Der Sturm war einfach vorbei. Das blaue Licht und die Flammen auf dem Meer verloschen, die Wellen glätteten sich. Unser Boot segelte wieder durch die Dunkelheit wie zuvor, nur die monströsen Riesenwellen waren verschwunden. Ein feuchter, böiger Wind legte die Meeresoberfläche in sanfte Falten. Der ganze Spuk war mit einem Mal verpufft.
Lüge. Alles Lug und Betrug. Nachdenklich hielt ich die Hand über die Bordwand ins kalte Wasser und schöpfte mir eine Handvoll davon ins Gesicht. Ein schönes Märchen glaubt man leichter, wenn es schauerlich erzählt wird. Der Klipper des Verrückten Kapitäns, der im strahlenden Sonnenschein über ein spiegelglattes Meer segelte - das hätte doch kein Mensch geglaubt!
Alles Lug und Betrug!
»Setz das Segel, Tom«, rief ich und marschierte zum Steuerrad. »Wir sind gar nicht mehr weit von unserer Insel entfernt. Bei diesem Wind kannst du doch bestimmt auch einen Waschzuber mit Leintuch segeln, nicht wahr?«
Die stählerne Klinge meines Schwerts war wie eine eisige Kruste an meinem Oberschenkel festgefroren.
5
DIE REVOLTE DIE REVOLTE
Der Himmel wollte sich nicht aufhellen, obwohl wir das unerklärliche Gefühl hatten, dass die Nacht zu Ende ging. Vielleicht kam es daher, dass wir einfach nicht mehr schlafen konnten. Ein Hauch von Morgendämmerung lag über dem Meer.
Die Aliens Nightmare passierte noch die Küsten von zwei oder drei Inseln, dann konnten wir vage die wohlbekannten Formen der Festung auf der Insel Nr. 24 ausmachen. Das Ruder hart backbord gelegt, steuerte Tom das Boot unter einer der Brücken hindurch. Die uns umgebende Düsternis schien sich noch zu verdichten. Endlich hoben sich vor dem flackernden Hintergrund eines fernen Wetterleuchtens die eckigen Konturen unserer Burg ab.
In jenen Augenblicken, als wir uns der Insel näherten, beschlich mich eine Regung, die ich nicht zulassen wollte, nicht zulassen durfte: das Gefühl, heimzukommen. Während es sich mit seiner schmeichlerischen Wärme in mir ausbreitete, empfand ich es als kaum verzeihliche, beschämende Schwäche. Denn die Burg des Scharlachroten Schildes war mitnichten mein Zuhause, sondern mein Gefängnis!
In voller Fahrt rammte sich das Boot in den flachen Sandstrand. Wir hatten die Entfernung völlig falsch eingeschätzt. Die Wucht des Aufpralls schleuderte mich mitten in die Überreste unserer Kajüte, während Tom
Mit gezogenem Schwert stand er am Strand und blickte sich um.
»Tim, es ist alles in Ordnung, das ist doch unsere Insel«, sagte ich und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter.
Er nickte und ließ zögerlich das Schwert sinken, während er weiter misstrauisch in die Dunkelheit spähte. Hinter uns mühten sich Tom und Inga damit ab, das Boot ans Ufer zu ziehen. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn, ihnen zu helfen, denn ich war völlig auf Timur fixiert, der offenkundig nicht ganz bei sich war.
»Dima«, flüsterte er mit schwacher Stimme, »du denkst jetzt wahrscheinlich, ich spinne, weil ich auf unserer eigenen Insel mit gezogenem Schwert herumlaufe. Aber weißt du, für mich ist die Konföderation die einzige Chance.«
Am Horizont flimmerten die schmalen Lichtbänder des Wetterleuchtens, und über uns am Himmel zogen die phosphoreszierenden Schatten dicker Haufenwolken hinweg.
»Diese Insel ist für mich nicht die erste, verstehst du?«, fuhr Timur halblaut fort. »Selbst wenn sie nach den Regeln des Großen Spiels den Sieg erringen würde, brächte mir das überhaupt nichts. Denn ursprünglich
»Warum erzählst du es mir dann?«, flüsterte ich.
»Damit du mich verstehst. Ich werde bis zum Ende für die Konföderation kämpfen, weil ich keinen anderen Ausweg habe. Ich habe das Gefühl, dass ich besonders vorsichtig sein muss.«
Obwohl Timur meine Geste nicht sehen konnte, nickte ich. Inzwischen kam Inga zu uns gelaufen. Tom war noch auf dem Boot zugange und suchte nach Vorratssäcken, indem er die Kajütenbretter auseinanderzog. Das hätte er sich wohl sparen können - im Sturm war alles von Bord gespült worden.
Obwohl wir nicht allzu weit von der Burg an Land gegangen waren, brauchten wir unerwartet lange für den Weg. Mag der Orkan auch eine Illusion gewesen sein, der Regen hatte sich tatsächlich sintflutartig über die Inseln ergossen. Im kalten, nassen Sand sanken unsere Füße ein, und mehrfach mussten wir kleine Senken umgehen, die sich in morastige Sümpfe verwandelt hatten. Schon nach wenigen Minuten waren wir völlig entkräftet, und ich bereute es, dass ich nicht vorgeschlagen hatte, bis Tagesanbruch am Boot zu warten. Aber
Schließlich erreichten wir die Burgmauer. Im Halbdunkel der schwindenden Nacht wirkte das Mauerwerk blassgrau, als hätte der Regen die rosa Farbe einfach abgewaschen. Das Tor stand offen.
»Ganz schön leichtsinnig«, bemerkte Timur abschätzig. »Sollen wir ihnen einen ordentlichen Schrecken einjagen?«