Niemand reagierte auf diesen Vorschlag, und sicherlich war auch Timur weniger nach lauten Szenen zumute als nach einem warmen, weichen Bett. Wir alle wünschten uns in diesem Moment nichts sehnlicher, als uns so schnell wie möglich auf die erstbeste freie Pritsche fallen zu lassen.
Erstaunlicherweise war auch die Tür am Haupteingang der Burg nur angelehnt, und durch den Spalt drang gelbes, flackerndes Licht. Wie auf Kommando blieben wir alle gleichzeitig stehen. Inga öffnete die Lippen, schien etwas sagen zu wollen, doch dann schloss sie wortlos den Mund wieder.
»Dima«, flüsterte Timur, »gehst du mal nachsehen?«
Ich nickte. In der Erwartung, sie würde wieder zu funkeln beginnen, blickte ich auf die Klinge meines Schwerts, doch sie tat nichts dergleichen. Das war im Grund nicht weiter verwunderlich, denn ihre Beschaffenheit hing ja einzig und allein von meinem Gemütszustand ab, und ich fühlte weder Wut noch Angst noch Misstrauen, sondern lediglich bleischwere Müdigkeit, die jede andere Regung in mir überlagerte.
Vorsichtig, möglichst keine Geräusche verursachend, schlich ich zur Tür und lugte durch den offenen Spalt.
Mitten im Gang, direkt vor dem schmalen Gatter, das in den Keller führte, brannte ein Lagerfeuer, an dem Rücken an Rücken zwei Jungen saßen. Als ich die vertrauten Gesichter erkannte, überkam mich ein Anflug von Ärger, sei es über den misstrauischen Timur, sei es über mich selbst, weil mich schon jeder Schatten beunruhigte.
Mit dem Fuß stieß ich die Tür auf und trat ein. Die Jungen sprangen erschrocken auf, einer von ihnen so panisch, dass er mit einem Bein versehentlich im Feuer landete und einen spitzen Schrei ausstieß. Das war Maljok.
Der zweite Junge zog langsam sein Schwert. Das Licht, das von der Klinge reflektiert wurde, glitt in flimmernden Streifen über seine hervorstehenden Wangenknochen und eine lange, verkrustete Narbe auf seiner Stirn. Als wir unsere Reise auf der Aliens Nightmare antraten, hatte Achmet, der Kommandeur der Insel Nr. 24, diese martialische Kampfspur noch nicht über der Nasenwurzel getragen. Nun schöpfte ich erneut Verdacht.
»Hallo«, sagte ich zu Maljok gewandt. »Haben sie dich doch schon wieder rausgelassen! Bist du bekehrt?«
Auf Maljoks Gesicht erschien ein dünnes Lächeln.
Dann sprach ich Achmet an: »Wie geht’s? Ist alles in Ordnung? Warum hältst du bei uns Nachtwache? Du bist doch ein Gast. Ist Chris bei euch auf der Insel?«
Achmet erstarrte, nur seine Finger spielten nervös am Griff seines Schwerts. Maljok, der sich abgewandt und die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, machte nicht einmal den Versuch, seine Waffe zu ziehen.
»Wir sind hundemüde, Achmet«, sagte ich mit einem gespielten Lächeln und ging auf ihn zu. »Jetzt wollen wir nur noch ins Bett. Morgen erzählen wir euch dann alles.«
Als ich nur noch zwei oder drei Schritte von ihm entfernt war, zog ich mein Schwert, sprang mit einem flinken Satz übers Feuer und drückte Achmet die Klinge an den Hals.
»Lass dein Schwert fallen«, zischte ich und blickte herausfordernd in seine vor Hass funkelnden Augen. »Na los, mach schon! Wirf es weg!«
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Maljok. Er blickte uns unsicher an, dann wich er zur Wand zurück und setzte sich scheinbar teilnahmslos auf den Boden.
»Ich zähle bis drei«, sagte ich kühl und hoffte wirklich, dass er sich kampflos fügen würde. »Eins... zwei...«
Mit einer behänden Bewegung riss Achmet den Kopf zurück, um meiner Klinge zu entgehen, sprang gleichzeitig einen Meter zurück und streckte sein Schwert mit beiden Händen vor sich aus. Mein Versuch, ihn mit einer bloßen Drohung zu entwaffnen, hatte sich als schwerer Fehler erwiesen. Es wäre besser gewesen, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Jetzt schwang er seine Waffe zur Seite und kam auf mich zu.
Die Klinge schräg vor den Kopf haltend, erwartete ich seinen Angriff, als von der Tür her das leise schnalzende Geräusch einer sich entspannenden Feder erklang. Achmet würgte ein Röcheln hervor, ließ sein Schwert fallen und fasste sich mit beiden Händen an die Kehle. Seine dünnen Finger ertasteten das kurze, befiederte Ende eines Armbrustpfeils, der in seinem Hals steckte. Dann rollte er mit den Augen, verzerrte den Mund zu einem ungläubigen Lächeln und sank ganz langsam in sich zusammen.
In der Tür stand Tom und hielt die Armbrust in der Hand, mit der er soeben den Pfeil abgefeuert hatte. Er
»Wo sind unsere Freunde?« Meine Frage galt Maljok, obwohl ich immer noch kein Auge von Achmet ließ, der sich auf dem Boden zusammenkrümmte. Bei so einem konnte man nie wissen.
»Im Keller«, erwiderte Maljok fast gelangweilt. »Keine Sorge, sie haben sich selbst verbarrikadiert.«
Erst jetzt bemerkte ich, dass das eisenbeschlagene Gatter, das in den Keller führte, mit zwei dicken, kurzen Holzbalken verrammelt war.
»Und wie viele von diesen... anderen sind in der Burg?«
»Zwei von den Vierundzwanzigern und drei von den Dreißigern. Sie sind oben.«
Timur schlüpfte zur Tür herein. Als er Maljok erblickte, entfuhr ihm ein leiser Fluch.
»Du schon wieder!«, fauchte er ihn an.
»Was heißt schon wieder?«, erwiderte Maljok entrüstet.
»Hast dir schon wieder neue Herren gesucht, was?«
Man merkte Timur an, dass er innerlich kochte und Maljok am liebsten angeschrien und in der Luft zerrissen hätte. Doch er war zu geschwächt, und seine Stimme blieb kraftlos, was in der heiklen Situation nicht das Schlechteste war. Denn in einem offenen Kampf hätte er uns in seiner derzeitigen Verfassung nicht viel helfen können.
»Tom, hol deine Knarre raus«, wies ich unseren Australier trocken an, nicht ganz sicher, ob er mich verstehen würde.
Doch er verstand mich hervorragend und zog seine Pistole aus dem Gürtel. Maljok, dem schon beim Wort »Pistole« die Kinnlade heruntergefallen war, marschierte ungestüm auf Tom zu.
»Wow! Lass mal sehen!«, gurrte er mit leuchtenden Augen.
Timur und ich tauschten einen Blick aus.
»Du spinnst wohl, Kleiner, das ist kein Spielzeug für dich«, sagte Timur giftig.
Maljok hatte offenbar noch gar nicht registriert, dass sich Toms Pistole auch gegen ihn hätte richten können. Womöglich hielt er sich immer noch für einen Kämpfer der Insel Nr. 36?
»Wie kommt es, dass du mit denen zusammen bist?«, blaffte ich ihn an.
Er zuckte mit den Schultern. »Die Unseren haben sich im Keller versteckt, während Achmet mit seinen Leuten die Burg besetzt hat. Sie haben mich gefragt, warum ich im Kittchen sitze. Chris hat es ihnen offenbar nicht gesagt. Da habe ich ihnen eben irgendeine Geschichte erzählt. Sie haben sich kurz beraten und mir dann vorgeschlagen, auf ihre Seite zu wechseln. Na ja, und...«
»Jaja, ich habe schon verstanden«, polterte Timur. »Wenn Tolik oder Meloman so gehandelt hätten, wäre das in Ordnung gewesen. Aber du hättest die Bande auch allein erledigen können. Zumindest hättest du während der Nachtwache Achmet ins Jenseits befördern und die Unseren befreien können.«
Maljok schüttelte heftig den Kopf und grinste uns zufrieden und selbstsicher an.
»Hätte ich nicht! Ich habe das Kämpfen verlernt«, sagte er beinahe triumphierend.
Wenn Maljok uns nicht anlog, so hatte diese Veränderung bereits am zweiten oder dritten Tag nach seiner Enttarnung stattgefunden. Als er am Morgen in seinem Verlies aufwachte, hatte er eine merkwürdige Leere und ein beklemmendes Verlustgefühl in sich verspürt, so als ob er etwas sehr Wichtiges vergessen hätte. Was dahintersteckte, bemerkte er erst viel später, als er wieder ein Schwert zur Hand nahm und einige Hiebe simulierte. Er konnte sich zwar noch an die Bewegungsabläufe und Kampftechniken erinnern, aber die leichtfüßige Wendigkeit und Schnelligkeit, die ihn zu einem der besten Kämpfer auf den Inseln gemacht hatten, waren ihm abhandengekommen. Offensichtlich konnten die Außerirdischen Fähigkeiten, die sie einem verliehen hatten, auch wieder zurücknehmen.