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Während Maljok uns dies alles erzählte, entfernten wir die Balken, mit denen das Kellergatter von außen verrammelt war. Dann stiegen wir die Treppe hinunter, hämmerten gegen die Kellertür und riefen nach unseren Freunden.

Endlich ertönte die gedämpfte Stimme von Chris: »Was wollt ihr?«

»Wir sind’s, macht auf!«, antwortete Timur lakonisch.

Rumpelnd wurden auf der anderen Seite die Barrikaden entfernt. Dann öffnete sich die Tür, in der mit misstrauischer Miene unser Kommandeur erschien. Er kniff die Augen zusammen, geblendet vom Licht unserer Fackel. Einen Augenblick lang musterte er Timur und mich, die Hand am Griff seines Schwerts. Dann lächelte er erleichtert und schloss uns beide gleichzeitig in die Arme. Timur stieß einen Schmerzensseufzer aus, da Chris direkt in seinen zerfetzten Arm gegriffen hatte.

»Ich wusste, dass ihr zurückkommt. Deswegen haben wir auch ausgeharrt.«

Wir traten in den Kellerraum, wo sich hinter Chris Tolik, Meloman, Ilja, Rita und Tanja drängten.

Iljas linker Arm war vollständig verbunden und hing in einer Schlinge, während Melomans rechte Hand bis zu den Fingerspitzen in einem dicken Verband steckte.

Als er meinen fragenden Blick auffing, sagte er seufzend: »Ich musste einen Schwerthieb abwehren - mit der Hand.« Völlig übergangslos fügte er empört hinzu: »Und seit einem Tag sind die Akkus von meinem Disc-Man leer. Wir haben zwar ein Feuer gemacht, aber damit funktioniert das Aufladen nicht.«

Lediglich Tolik trug keinerlei Verband. Als ich jedoch sein Gesicht sah, seine weißen, zerbissenen Lippen und seinen kalten, bösen Blick, war mir schlagartig klar, dass auch er eine Rechnung offen hatte. Die Rache wird fürchterlich, dachte ich.

»Wo ist denn Sershan, der alte Nörgler?«, fragte ich launig und hoffte, Tolik damit ein wenig aufmuntern zu können. Doch im selben Moment begriff ich, dass ich die falsche Frage gestellt hatte.

»Den haben sie als Ersten getötet.«

Toliks Stimme war genauso böse und kalt wie sein Blick. Meine Hände begannen zu zittern, und mit diesem Zittern stieg eine lähmende Verbitterung in mir auf. Sershan, der alte Streithahn und Schwarzseher, war mir kein so enger Freund gewesen wie Tolik oder Timur. Aber auf dem glatten Brückenmarmor hatten wir Seite an Seite ums Überleben gekämpft.

Die Rache wird fürchterlich.

»Und die anderen...?« Ich verstummte, denn Toliks

»Lera.«

Lera? Ich würgte an der von Rauch getränkten Kellerluft. Ein zehnjähriges Mädchen? Selbst wenn alle Jungen auf einer Insel umgebracht wurden, krümmte man den Mädchen in der Regel kein Haar.

»Aus Versehen? Mit einem Pfeil?«, fragte ich in der vagen Hoffnung, dass es kein feiger Mord gewesen war. Es ist schwer, sich die Schlechtigkeit ehemaliger Freunde einzugestehen. Händeringend suchen wir nach Rechtfertigungen für ihr schändliches Verhalten.

»Mit dem Schwert, als wir in den Keller flüchteten und Lera ein Stück zurückblieb.«

Die Rache wird fürchterlich.

»Und Olja?«

»Sie ist in Gefangenschaft, sitzt im Turm, wo ich vorher eingesperrt war«, antwortete Maljok, der uns in den Keller gefolgt war.

»Ist alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Rita besorgt.

Maljok zuckte mit den Achseln. »Schon. Sie haben ihr was zu Essen gebracht und so... Nur hat sie immer geweint, wenn Achmet und Boris sie verhört haben.«

»Verhört?«, fragte Rita entsetzt und riss die Augen auf. »Verhört?«, schrie sie beinahe hysterisch.

Chris sprang zu Maljok, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. »Bub... Du dummer Bub!«

Völlig verdutzt versuchte Maljok, sich loszureißen. Chris ließ ihn von selbst los, holte schon aus, ließ die Hand dann aber doch wieder sinken und wandte sich zornrot von ihm ab. Stattdessen baute ich mich vor Maljok auf.

»Was habt ihr denn? Was habe ich denn getan?«, wimmerte er.

Kommentarlos schlug ich ihm mit der flachen Hand hart ins Gesicht. Aber ich verstehe, dachte ich. Ja, ich verstehe vollkommen. Du kannst ja nichts dafür, Maljok, dass du als kleiner Junge auf die Insel gekommen bist. Und du kannst auch nichts dafür, dass die Insel des Scharlachroten Schildes von Chris mit englischer Strenge geführt wird, sodass Kinder nicht wissen, was sie nicht zu wissen brauchen. Es ist nicht deine Schuld. Aber...

Die Rache wird fürchterlich.

6

DIE BEFREIUNG

Gegen Abend kehrte ich von der Ostbrücke zurück. Den ganzen Nachmittag über hatte ich dort am höchsten Punkt nackt ausgezogen in der Sonne gelegen. Mein Holzschwert hatte ich mit meiner Kleidung umwickelt und mir als Kissen unter den Kopf geschoben. Es gibt sicher bequemere Orte für ein Sonnenbad, doch die Verrenkungen zwischen Kajüte und Mast der Aliens Nightmare hatten meine Ansprüche in dieser Hinsicht auf ein Minimum reduziert.

Sowohl unsere Burg als auch die Burg der Insel Nr. 30 hatte ich von hier oben bestens im Blick. Wenn jemand dort unten aufgetaucht wäre, hätte ich genug Zeit gehabt, mich in aller Ruhe anzuziehen und auf mögliche unangenehme Überraschungen vorzubereiten. Doch die Insel Nr. 30, die von der Konföderation ausgelöscht worden war, lag immer noch wie ausgestorben da. Ich stellte mir vor, in welch misslicher Lage sich der Junge wiederfinden würde, den es als Nächsten von der Erde dorthin verschlagen würde.

Auf den gefährlichen Brücken hielten die anderen Jungen Wache. Mir wurde eine Verschnaufpause gegönnt, obwohl ich schon den gestrigen Tag, den ersten nach unserer Rückkehr auf die Insel, vollständig verschlafen hatte.

Nur einmal, gegen Abend, war Mädchengeflüster durch den dicken Vorhang des Schlafes zu mir durchgedrungen.

»Gehen wir, lassen wir ihn schlafen«, flüsterte Rita schließlich.

Für einen Augenblick wollte ich lachen und ihnen sagen, dass ich überhaupt nicht schliefe, um schon im nächsten Augenblick wieder in eine tiefe Besinnungslosigkeit zu versinken, die bis zum nächsten Morgen andauern sollte.

Als ich erwachte, fühlte ich mich müde, und mein Kopf schmerzte. Das kommt vor, wenn man allzu lange schläft. Zum Glück hatte ich keine Gelegenheit dazu, in Selbstmitleid zu versinken, denn Timur fühlte sich noch viel schlechter als ich und fiel für den Wachdienst definitiv aus. Die restlichen Kämpfer waren gerade genug, um die Brücken zu bewachen.

Nachdem Chris meine zerknitterte Visage erblickt hatte, schickte er mich umstandslos auf die Ostbrücke, für die ohnehin nur der Form halber ein Wachposten vorgesehen war. Tom und Tolik entsandte er zur Westbrücke, was völlig ausreichend erschien, da sie mit der Pistole bewaffnet waren. Er selbst machte sich mit Ilja, Meloman und Maljok zur Südbrücke auf. Trotz aller Verluste waren wir immer noch einsatzfähig.

Bei Einbruch der Dämmerung zog ich mich an und machte mich, noch etwas dösig vom langen Sonnenbad, auf den Rückweg zur Insel. Vor allen anderen traf ich

In Timurs Kammer endlich erblickte ich die Mädchen. Sie hatten sich am Fenster zusammengedrängt, während Timur auf seinem Bett lag und schlief. Auch hier herrschte Stille im Raum, aber eine lebendige Stille, erfüllt vom Atem des Schlafenden, vom gedämpften Flüstern einer kaum vernehmbaren Unterhaltung und vom Rascheln lockerer Kleidung, die ein sanfter Luftzug in Bewegung versetzte. Als ich eintrat, drehten die Mädchen mit einem Ruck die Köpfe in meine Richtung, und ich bemerkte sofort den verängstigten, fast panischen Ausdruck in Oljas Gesicht. Nachdem ich mich um ein beruhigendes, sanftes Lächeln bemüht hatte, verließ ich den Raum wieder.

Diese Dreckskerle, dachte ich, diese verdammten Bestien!

Boris, Achmets Freund und Helfer, hatte ich selbst getötet. Dabei war mir gar nicht bewusst gewesen, dass dies mein erster Mord war. Es war das erste Mal, dass ich mit dem Schwert auf jemanden einschlug mit der festen Absicht, ihn ins Jenseits zu befördern. Er war der Erste, den ich nicht in einem Duell Mann gegen Mann getötet hatte.