Gewöhnlich erfolgten die Angriffe über die Brücken der Inseln Nr. 24 und Nr. 12, seltener, gleichsam zur Abwechslung, über das Territorium der Insel Nr. 30, die nach wie vor unbewohnt und wie ausgestorben war.
Augenscheinlich sah man in uns die Hauptschuldigen an den katastrophalen Zuständen, die neuerdings auf den Inseln herrschten. Unsere einstigen Freunde auf den Nachbarinseln, Salif von der Nr. 12 und Lorka von der Nr. 24, waren wie vom Erdboden verschluckt. Möglicherweise waren sie gar nicht mehr am Leben.
Wir kämpften ununterbrochen von morgens bis abends. An Kampfpausen oder jene nur mit halber Kraft geführten Scharmützel, wie es sie früher einer stillschweigenden Vereinbarung folgend häufiger gegeben hatte, war überhaupt nicht mehr zu denken. Jeden Tag kehrte der eine oder andere von uns mit üblen Verwundungen von der Brücke zurück und schied für ein, zwei Tage aus dem Großen Spiel aus.
Auch ich kam nicht ungeschoren davon. Während eines völlig banalen Gefechts, in dem schwer auszumachen war, wer auf wen einschlägt, und das genauso schnell zu Ende ging, wie es angefangen hatte, wurde mein linker Arm durch Schwerthiebe zerschnitten, und in meinem rechten Bein landete ein verirrter Pfeil. Mit blutverschmiertem Arm und hinkend schleppte ich mich aus dem Getümmel. Ilja und Meloman stützten mich und zogen mich aus der Gefahrenzone.
Die Stirn in tiefe Falten gelegt, inspizierte Meloman meinen Unterschenkel und befahl mir wegzuschauen. Gehorsam wandte ich den Blick ab, denn es ist wahrlich kein Vergnügen, dabei zuzusehen, wie dir mit einem hölzernen Dolch ein Pfeil aus dem Bein herausgepult wird. Eine halbe Stunde später lag ich bereits in meiner Kammer auf dem Bett, und Rita und Inga wuselten um mich herum. Mit beinahe zärtlicher Behutsamkeit trug Rita die Heilsalbe auf meine Wunden auf. Inga, der der Schrecken über meine Verwundung noch ins Gesicht geschrieben stand, legte mir die Verbände an. Dabei überzog sie mich mit einer Litanei von Vorwürfen, dass ich im Kampf so unvorsichtig gewesen sei.
Einige Tage später ging ich wieder auf Wache. An meinem Unterschenkel blieb eine leicht geschwollene hellrosa
Keiner von uns sprach mehr über die gescheiterte Konföderation. In jener Zeit redeten wir generell wenig miteinander, weder über die Außerirdischen noch über den Verrückten Kapitän noch über unsere Schiffsreise auf dem Archipel. Die Aliens Nightmare lag immer noch genau so am Ufer, wie wir sie nach unserer Heimkehr zurückgelassen hatten. Weit vom Wasser entfernt, trocknete sie langsam aus, und in den Holzplanken zeigten sich erste Risse.
Unsere Insel fiel in eine Art Schlaf, in einen endlosen, monotonen Traum über einen sinnlosen Krieg, den wir, wie mir schien, zum Amüsement der Außerirdischen führten, die irgendwo dort oben über uns in ihrem Versteck ausharrten. Ich weiß nicht, ob das normal ist, aber ich persönlich war froh darüber, dass in jener Zeit keine Notwendigkeit bestand, irgendwelche Entscheidungen zu treffen oder komplizierte Pläne zu schmieden für einen Kampf gegen die Außerirdischen oder gegen die Bewohner der Nachbarinseln.
Mir war am ehesten danach, eine stumpfsinnige Arbeit zu tun, für die weder besondere physische Kräfte noch geistige Anstrengung erforderlich waren, sondern einzig und allein Geduld.
An den Abenden schloss ich mich nach dem Essen in meiner Kammer ein und zeichnete an einem Plan der Burg. Linie an Linie fügte sich auf einem Blatt Papier aus Toms Heft. Alle Räume der Burg waren längst ausgemessen worden, man musste nur die langen Zahlenreihen zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen: die Außenmaße der Burg, Länge und Breite; die Dicke der
Toms Taschenrechner, der im Übrigen ein weitgehend sinnfreies Dasein fristete, leistete mir wertvolle Hilfe bei meiner Arbeit. Immer wieder aufs Neue rechnete ich die Zahlenkolonnen durch. Indem ich die genaue Länge meines Schwerts ermittelte - dreiundneunzig Zentimeter - maß ich einige Räume nach.
Die Zahlen stimmten überein. Aber die Linien auf dem Plan nicht!
Eines Tages, es war schon spät am Abend, begriff ich, wo der Fehler lag. Ich beschloss, erst am Morgen zu Chris zu gehen, denn ich war hundemüde, und die bevorstehende Unterredung würde gewiss länger dauern. Von Natur aus bin ich wohl eher ein Frühaufsteher. Es fällt mir schwer, sehr lange aufzubleiben, dafür werde ich morgens früh munter.
Am nächsten Tag stand ich noch bei Dunkelheit auf, so gegen fünf Uhr.
Die Nacht ist die Zeit der überraschenden Entdeckungen. Davon konnte ich mich ein weiteres Mal überzeugen, als ich mich Chris’ Kammer näherte. An der Schwelle der angelehnten Tür empfing mich ein deutlich vernehmbares Flüstern. Als ich die Stimme erkannte, begann mein Herz heftig zu pochen.
Es war Rita.
Ich hätte wieder gehen können, ja sogar müssen, doch ich konnte mich nicht entschließen. Eine Hitzewelle stieg in mir auf, und meine Beine wurden weich. In meinem Kopf drehte sich nur ein einziger Gedanke: Was bin ich nur für ein dummer Junge, keinen Deut besser als Maljok!
»Chris, mein Lieber«, flüsterte Rita, deren Stimme völlig klar durch den Türspalt drang, »wir haben doch alles richtig gemacht, niemanden trifft eine Schuld. Ich weiß gar nicht, was du hast.«
»Ich hätte es ahnen können. Ich hätte es vorhersehen müssen.« Chris’ Stimme war fest wie immer, dennoch mischte sich ein Anflug von Zweifel in seinen Tonfall, so als wünschte er, dass man ihm widersprach, ihn eines Besseren belehrte.
»Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Mit uns jedenfalls nicht«, beschwichtigte Rita.
»Aber Sershan... Und dann Lera und Olja.«
»Kannst du dich auch nur an einen einzigen Monat erinnern, in dem niemand starb? Was hat die Konföderation damit zu tun? Und Olja geht es schon viel besser.«
Für einen Moment kehrte Stille ein. Es wäre die Gelegenheit zum Rückzug gewesen, aber jetzt hatte ich Angst, dass sie mich hören könnten.
»Lassen wir das, Chris. Es wird bald hell werden. Und du bist müde.«
»Warte, Rita. Nur noch ein paar Minuten... Mach mich noch ein bisschen müder.«
Rita lachte ein eigenartiges Lachen, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte.
»Zu Befehl, mein Kommandeur...«
»Ist es so gut?«
»Ja... Jaahh...«
»Meine Prinzessin!«
Es war höchste Zeit zu verschwinden. Langsam rückwärtsgehend, entfernte ich mich von den Stimmen, von dem kaum vernehmlichen Rascheln, von diesen beiden
»Ich brauche dich, Chris!«, hauchte Rita mit zitternder Stimme. »Du darfst nicht sterben, hörst du? Halt dich aus den Kämpfen heraus, bitte! Chris... Chris!«
Plötzlich hörte Rita auf zu sprechen und begann stattdessen leise und gedämpft zu stöhnen. Die physische Nähe der fremden Lust wirkte natürlicherweise faszinierend auf mich, dennoch beschleunigte ich meinen Rückzug, da es mir peinlich war, dabei zuzuhören - ich wollte schließlich kein Voyeur sein.
Das rhythmische Stöhnen und das Knarren des Bettgestells verhallten bereits in der Finsternis, als ich, immer noch rückwärtslaufend, plötzlich über mein verflixtes Schwert stolperte. Mit den Händen in der Luft rudernd, so als könnte ich mich darin festhalten, stürzte ich rücklings zu Boden. Krachend schlug die hölzerne Klinge des Schwerts auf dem Steinboden auf.
Zwei oder drei Sekunden später riss Chris die Tür auf. Mit den Händen abgestützt, saß ich konsterniert auf dem kalten Marmor. Chris Silhouette hob sich in der hellen Türöffnung ab, denn seine Kammer war nach Osten ausgerichtet und schon schwach erleuchtet. Einer seiner Arme erschien unnatürlich lang - es war das Schwert, das er in der Hand hielt.
»Ich bin’s, Chris, ich bin’s.«
»Was ist passiert, Dima?«