Als ich seine athletische, stramme Silhouette in der Tür anstarrte, bemerkte ich plötzlich, dass er nichts an hatte, rein gar nichts.
»Ähm, ich hätte etwas Wichtiges mit dir zu besprechen, Chris. Komm doch bitte mal zu mir.«
»Ist gut, ich komme. In ein paar Minuten, okay?«
»Ja, danke, ich erwarte dich.«
Gnädig verbarg die Dunkelheit mein knallrot angelaufenes Gesicht. Beim Versuch, mich aus der peinlichen Situation zu retten, waren meine Worte unnatürlich förmlich geraten. Chris musste das als lächerlich empfunden haben, ließ sich aber nichts anmerken.
Im Laufschritt erreichte ich meine Kammer, wo ich eine Kerze entzündete. Schwer atmend setzte ich mich aufs Bett und beobachtete die langsam anschwellende Flamme. Im Raum verbreitete sich der angenehme Duft geschmolzenen Stearins.
»Was ist passiert?«, fragte Chris, als er kurz darauf lautlos meine Kammer betrat.
Er sah aus wie immer: Jeans, T-Shirt, alte Turnschuhe und das Schwert am Gürtel.
»Sieh dir das mal an«, sagte ich und hielt ihm die Blätter hin. »Das ist ein Plan der Burg. Es sind alle Räume und Gänge eingezeichnet, die uns bekannt sind.«
Chris sah sich die Blätter gar nicht erst an, er hatte auch so verstanden. »Die uns bekannt sind?«
»Ja. Mitten in der Burg bleibt sozusagen ein weißer Fleck auf der Landkarte. Zwischen Thronsaal und Küche muss sich ein fünf mal fünf Meter großer Raum befinden, zu dem es keinen Eingang gibt.«
Es kam mir so vor, als ob unser Kommandeur eine halbe Ewigkeit schwieg. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er schon lange von dem »weißen Fleck« gewusst hätte. Aber dem war nicht so.
»Schlägst du vor, in diesen Raum einzudringen?«, fragte er.
»Ja, wir müssen die Wand durchbrechen.«
»Ob sie uns das gestatten?«
Irritiert sah ich ihm in die Augen. Seine einfache Frage hatte mir für den Moment die Sprache verschlagen. Chris war unser Kommandeur, der stärkste und mutigste Kämpfer auf der Insel. Hatte er womöglich vor den Außerirdischen kapituliert?
»Wir brauchen doch niemanden zu fragen«, entgegnete ich entschlossen.
»Dima, die Außerirdischen verbieten manchmal die harmlosesten Dinge. Sie haben zum Beispiel nichts gegen Sex auf den Inseln. Aber wenn sich ein Mädchen und ein Junge ineinander verlieben, passieren unschöne Sachen mit ihnen. Sie kommen auf den Brücken um, fallen versehentlich ins Meer oder verschwinden einfach über Nacht. Auf den Inseln ist es sehr schwierig, jemanden zu lieben. Ich glaube nicht, dass sie etwas gegen die Liebe an sich haben. Umso mehr, als man sich dieses Gefühl hervorragend zunutze machen kann. Liebende lassen sich viel leichter steuern als Menschen, die sich nur um sich selbst sorgen. Dennoch, ich weiß nicht wieso, aber bislang kam eine Liebesbeziehung hier immer einem Todesurteil gleich. Und wenn wir jetzt in diesen Raum eindringen, der offensichtlich nicht für uns bestimmt ist, würde das die Außerirdischen möglicherweise noch mehr herausfordern.«
So war das also.
»Dann entscheide selbst oder beratschlage dich mit Rita«, sagte ich leise und wandte mich ab.
Chris blickte mich für einen Moment schweigend an.
»Dummer Junge«, sagte er dann zärtlich und ein bisschen spöttisch. »Mir und Rita bleibt ohnehin nur noch
Was hat Inga damit zu tun?, dachte ich empört. Doch dann sagte ich, unerwartet für mich selbst: »Vielen Dank für die Anteilnahme, aber wir hatten eigentlich nicht vor, ohne Widerstand zu kapitulieren. Drei Jahre sind ein zu kurzes Leben, aber zu lange, um sie nur zu überstehen.«
»Dann weck die anderen auf«, schlug Chris vor und wirkte dabei auf seltsame Weise erleichtert.
Der Vorschlag, nach einer Tür zu dem ominösen Raum zu suchen, kam von Tolik. Und er war es auch, der sie schließlich fand. Ein Teil der Wand hob sich vom Hintergrund ab, sie wirkte etwas heller und hatte eine etwas andere Maserung.
Timur und Ilja gingen in den Keller, um Brecheisen zu holen, dort lagen zwei oder drei Stück herum. Seit einer Woche sperrten wir den Keller nicht mehr ab, denn selbst wenn unter uns noch ein Spion der Außerirdischen gewesen wäre, er hätte nichts zu berichten gehabt; die Verschwörung auf der Insel Nr. 36 war vorbei.
Dann machten wir uns daran, die Wand zu durchbrechen. Wir stießen auf mächtige Steine, die zum Glück mit einem minderwertigen Zementmörtel zusammengefügt worden waren. Dieser Mörtel war im Lauf der Jahre spröde und bröselig geworden.
Zunächst hatten wir noch versucht, die Steine zu zertrümmern, nach einiger Zeit jedoch kamen wir dahinter, dass es weitaus effektiver war, den Zement herauszuschlagen, die Brecheisen in den Zwischenräumen anzusetzen
Als durch die Fenster die ersten schüchternen Sonnenstrahlen hereinfielen, legte Chris die Stirn in Falten.
»Wir müssen uns beeilen, in einer halben Stunde schieben sich die Brücken zusammen«, sagte er besorgt.
»Machen wir heute gar kein Aufwärmtraining?«, fragte Timur heiser und holte zu einem neuen Schlag mit dem Brecheisen aus.
»Du wärmst dich doch schon seit einer Weile mit dem Brecheisen auf«, beschied Chris trocken.
»Verstanden«, brummte Timur und stemmte wild schnaubend und mit urwüchsiger Kraft einen gewaltigen Steinquader aus der Wand. Mit dumpfem Grollen fiel er auf der Innenseite des geheimnisvollen Raumes zu Boden und hinterließ ein gewaltiges Loch in der Wand. Wir hielten inne und starrten durch die finstere Öffnung.
Als Erster reagierte Chris. Er nahm Tolik das zweite Brecheisen aus der Hand und begann mit raschen Rammstößen, das Loch zu vergrößern. Die Steine ließen sich nun relativ leicht aus dem Mauerwerk schlagen. Die Stabilität jeder Mauer beruht auf ihrer geschlossenen Struktur, sobald man ihr ein Stück entrissen hat, ist auch der Rest dem Zerfall geweiht.
Stein um Stein fiel in die größer werdende Öffnung. Man hätte sich bereits hindurchzwängen können, doch nun hatte uns der Ehrgeiz gepackt: Unsere glühenden Brecheisen förderten in Windeseile die Umrisse der einstigen Tür zutage.
Als Chris keuchend sein Werkzeug sinken ließ, trat ich an die Öffnung heran, bückte mich und spähte hinein.
Zuerst sah ich überhaupt nichts, meine Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen. Aus dem schwarzen Loch strömte mir ein Schwall kalter Luft entgegen. Sie war weder stickig noch modrig, sondern einfach abgestanden. Jahrzehntelang hatte niemand diese Luft geatmet, und genau so fühlte sie sich an, als sei sie in ihrem steinernen Käfig abgestorben.
»Was ist da drin?«, fragte Meloman neugierig.
Ich schwieg. Aus der Dunkelheit starrten mich zwei Augen an, die zugleich tot und lebendig waren. Traurige, müde Augen.
»Hier ist ein Gemälde«, sagte ich schließlich. »An der gegenüberliegenden Wand steht ein großes Porträt. Gebt mir mal eine Fackel.«
Jemand reichte mir einen Holzstab, der mit wachsgetränktem Stoff umwickelt war und aus dem eine lodernde Flamme schlug. Die Fackel vor mich hin gestreckt, schlüpfte ich durch die Öffnung.
Der Raum war ziemlich groß. Es waren genau die fünf mal fünf Meter, die auf dem Plan gefehlt hatten. Die Wände waren nach oben hin abgeschrägt, sodass sich in etwa die Form eines vierkantigen, stumpfen Kegels ergab. Es waren keinerlei Fenster oder weitere Türen zu erkennen. Auf zwei Bretterkisten an der gegenüberliegenden Wand stand in einem hölzernen Rahmen das Gemälde, das einen bärtigen Mann mit Dornenkrone zeigte: Jesus Christus. An der Wand hingen noch einige Ikonen.
»Das ist eine Kirche, eine Kapelle«, sagte ich im Flüsterton zu Chris, der nach mir in den Raum gestiegen war.
Nach und nach leuchtete ich mit der Fackel alle Teile des Raumes aus: ein zersprungenes, umgestürztes Fass; noch einige Bretterkisten; leere Dosen, Konserven womöglich; und etwas Weißes, das auf dem Boden verstreut lag und mit halb verrotteten Kleidungsresten bedeckt war. Mir wurde schlecht.