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Es waren drei oder vier, die in dem eingemauerten Raum gestorben waren. Zwei von ihnen lagen direkt neben mir, ihre Skelette waren ineinander verschlungen, als hätten sie sich im Sterben dicht aneinandergedrängt und umarmt. Und in der entfernten Ecke des Raums lagen weitere jämmerliche Häuflein aus Knochen und Stofffetzen.

»Grausam«, hauchte Chris stimmlos und fasste mich am Arm, als er die bleichen Gerippe erblickte. »Sie wurden bestialisch umgebracht, Dima.«

»Sie haben sich selbst umgebracht«, entgegnete ich schockiert, als mir klar wurde, was hier geschehen war.

An der Wand stand ein durchgerosteter Eimer, der versteinerte Mörtelreste enthielt. Daneben lagen einige Steinquader. Die Tür war von innen zugemauert worden, von außen hatte man sie lediglich verputzt.

Chris bückte sich und hob etwas vom Boden auf.

»Sieh mal, Dima, ein Schreibheft.«

Wir hatten Glück. Das Papier war gut erhalten. Der Umschlag war zwar vergilbt und die Seiten ein wenig zerfleddert, aber die Buchstaben konnte man selbst im schwachen Licht der Fackel einwandfrei erkennen.

Timur, der die Kapelle als Dritter betreten hatte, stieß einen gedehnten Pfiff aus, als er die Skelette erblickte. Viel interessanter schienen ihm jedoch die Bretterkisten zu sein, an denen er sich sogleich zu schaffen machte.

»Chris! Da sind Waffen drin!«, rief Timur begeistert.

Der Waffenfund ließ uns kalt. Als hätten wir uns abgesprochen, verließen Chris und ich den Raum. Kaum waren wir draußen, wurden wir von Tolik und Meloman abgelöst, die mit vor Neugier leuchtenden Augen in die Kapelle glitten. Chris ging zum Fenster und drückte mir das Schreibheft in die Hand.

»Da... Lies!«

Im Gang standen nur noch die Mädchen, die Jungen stöberten zwischen den Kisten herum. Das Krachen splitternden Holzes drang nach draußen und - »Wow!« - ein begeisterter Aufschrei von Ilja.

»Lies vor, Dima«, sagte schüchtern Maljok, der plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Vielleicht hatte er dasselbe Gefühl wie Chris und ich: dass das, was in dem Heft geschrieben stand, viel wichtiger war als alles, was sonst in der Kapelle zu finden war.

Die Zeilen waren mit einer schnörkeligen, sauberen Handschrift, also vermutlich von einem Mädchen geschrieben worden. Die Tinte war in den Jahren nicht verblichen, sondern eher noch dunkler geworden.

»Sechster Juli neunzehnhundertsiebenundvierzig«, las ich vor. »Vor zwanzig Tagen haben wir unsere Union gegründet...«

Ein Jubelschrei unterbrach mich, und Timur steckte den Kopf durch die Türöffnung. »Chris, hier sind zwei Maschinengewehre!«, verkündete er mit dem Stolz eines erfolgreichen Trophäenjägers.

Wir ignorierten Timurs Maschinengewehre.

Mit unsicherer Stimme las ich die ersten Zeilen vor: »Umgeben von den feindlichen Kräften der kapitalistischen Welt hat unsere Insel sich dazu entschlossen, nicht aufzugeben, sondern das Banner der proletarischen Revolution hochzuhalten …«

So seltsam rührig diese Worte Jahrzehnte später auch klingen mochten, lösten sie doch vor allem tiefe Traurigkeit in mir aus.

8

DAS TAGEBUCH DER KOMMUNARDEN

Die Mädchen und Jungen, die vor fünfundvierzig Jahren auf der Insel gelebt hatten, hielten die Außerirdischen für Marsmenschen. Außerdem wähnten sie sich auf der Erde, irgendwo im Pazifischen Ozean. Das waren auch schon die wesentlichen Unterschiede, ansonsten war bei ihnen fast alles genauso wie bei uns.

Sie hatten genau wie wir einen entschlossenen und mutigen Kommandeur, nur hieß er Mischa und nicht Chris. Wie wir hatten sie den Entschluss gefasst, die Inseln zu vereinigen, nicht zu einer Konföderation, sondern zu einer Union, was nur ein anderer Name für ein und dasselbe war. Sie hatten auch ein eigenes Schiff, das etwas größer als die Aliens Nightmare war. Auch in ihren Reihen fand sich ein Verräter, der im Keller »über Funk« Kontakt zu den Außerirdischen hielt. Und in ihrer Union hatte sich so wie bei unserer Konföderation eine Revolte ereignet, in deren Folge sie sich auf ihrer Insel verbarrikadieren mussten.

Die Kommunarden - so nannten sich diese Jungen und Mädchen - verfügten über Waffen, die während des Zweiten Weltkriegs auf die Insel gelangt waren. Vielleicht aus diesem Grund wurde zur damaligen Zeit viel mehr gestorben als zu unserer; alle zwei bis drei Tage kam »Ersatz« auf der Insel Nr. 36 an.

Unsere Wege verliefen vollständig parallel, wir verwendeten lediglich verschiedene Begriffe für dieselben

Die Geschichte der Inseln drehte sich im Kreis. Anscheinend waren auch diese Jungen und Mädchen nicht die Ersten gewesen, die den Versuch unternahmen, die Inseln zu vereinigen.

Allerdings wären wir wohl kaum dazu imstande gewesen, uns im finstersten Raum der Burg, der Kapelle, zwischen alten Ikonen lebendig einzumauern. Sie hatten es todesmutig getan, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie keine Chance hatten, zu siegen. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat. Katja, das Mädchen, von dem die Aufzeichnungen stammten, erwähnte nichts davon. Als hätte der Satz »Wir beschlossen, uns in der Kapelle zu verbarrikadieren« schon alles erklärt. Bemerkenswerterweise hatten die Kommunarden darauf verzichtet, die religiösen Symbole, die eigentlich nicht in ihr Weltbild passten, aus der Kapelle zu entfernen.

Ich konnte mich nicht von der Lektüre losreißen; immer weiter blätterte ich die trockenen, brüchigen Seiten um und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich Episoden vorlas, die mir bekannt vorkamen.

»Edik und Vitja von der Insel Nr. 12 haben Dinka in ihre Kammer gezerrt und vergewaltigt. Da haben Mischa und Rinat sich mit Maschinengewehren bewaffnet und sind auf die Brücke gestürmt...«

»Als wir uns zurückzogen, schoss Willi einen Pfeil aus seinem Bogen ab und tötete Semjon. Wir waren überhaupt nicht auf der Hut gewesen, da wir wussten, dass sie keine Patronen mehr hatten. Außerdem hatten wir gedacht, dass Willi als Sohn eines Arbeiters zu uns halten würde. Jetzt wissen wir, dass er ein Faschist war. Die

»Wir werden jeden Tag angegriffen. Man wirft uns vor, wir seien schuld an dem ganzen Schlamassel. Dabei wollten wir nur das Beste...«

Seite für Seite las ich laut vor. Inzwischen hatten sich alle um mich herum versammelt, auch Timur, der ein Maschinengewehr vom Typ PPSch-41 in Händen hielt, und Ilja, der mit einem schweren gelben Klotz herumspielte, bis Meloman die Vermutung äußerte, dass es sich dabei um eine Dynamitstange handeln könnte. Auch die Mädchen hörten zu. Olja weinte leise und schmiegte sich an Inga. Ritas Miene hatte sich verfinstert, in ihren Augen lag Bitterkeit und Trauer.

»Nick hat gesagt, ich sei das letzte Mädchen auf der Insel und müsse sie deshalb alle ›inspirieren‹. Mischa hat gesagt, ich solle das selbst entscheiden. Ich habe zugestimmt, aber ich ekle mich davor und empfinde es überhaupt nicht als angenehm. Pak schaut mich gekränkt an und sagt, dass er keine Lust habe, dabei wäre ich ihm am wenigsten böse...«

»Heute ist uns das Wasser ausgegangen. Nick hat versucht, die Mauer aufzubrechen. Mischa hat nichts dazu gesagt, und Pak hat versucht, Nick zu helfen. Aber der Zement ist schon ausgehärtet, sie haben es nicht geschafft. Wahrscheinlich sind wir vom Hunger so geschwächt...«

»Pak hat sich gestern mit Mischas Pistole erschossen. Kommunarden machen so etwas nicht, aber es tut mir trotzdem leid um ihn. Ich weine schon den ganzen Tag...«

»Ein erbärmlicher Gestank erfüllt den Raum, und mein Kopf schmerzt. Mischa hat gesagt, dies sei die letzte Kerze,

Hier endeten die Aufzeichnungen. Bewegt ließ ich das Heft sinken und sah Chris erwartungsvoll an, als könnte er noch etwas hinzufügen. Doch der Kommandeur blickte nur nervös zur Uhr.

»Vorwärts, auf die Brücken!«, befahl er energisch. »Sonst werden wir noch in der Burg überrannt.«