Das Maschinengewehr umgehängt, eilte Timur die Treppe hinauf zum Wehrgang. Die anderen folgten ihm. Bevor ich die Burg ebenfalls verließ, legte ich das Tagebuch sorgsam auf den Tisch im Thronsaal.
Zwar wurden wir nicht in der Burg überrannt, aber einige feindliche Kämpfer befanden sich bereits auf unserer Seite der Brücke auf dem Vormarsch. Als sie jedoch unsere Maschinengewehre erspähten, machten sie auf dem Fuß kehrt und suchten das Weite. Toms Pistole hatte ihnen schon gehörigen Respekt vor Schusswaffen beigebracht. Timur klammerte sich an die PPSch-41 und sah ihnen kopfschüttelnd hinterher.
»Bedauerst du, dass es nicht zum Kampf gekommen ist?«, fragte ich.
»Keineswegs«, erwiderte Timur und streckte mir das Maschinengewehr hin. »Damit kann man nicht mal einen Hirsch aus zwei Metern Entfernung erschießen. Der Verschluss ist komplett durchgerostet.«
Nachdenklich beobachtete ich die flüchtenden Jungen. Die Sonne schien ihnen auf den Rücken, sie hätten hervorragende Zielscheiben abgegeben.
»In zwei oder drei Tagen werden sie dahinterkommen«, orakelte ich.
»Na und, dann müssen wir uns in diesen zwei, drei Tagen eben etwas Neues ausdenken«, entgegnete Timur gelassen.
Es war einer jener Tage, die sich quälend langsam ihrem Ende entgegenschleppten. Sehnsüchtig erwarteten wir den Einbruch der Dunkelheit und das Ende des mühseligen Wachdienstes. Die Sonne wollte einfach nicht untergehen, als würde sie in ihrer Bahn zum Horizont von unsichtbarer Hand gebremst.
Als es endlich Abend wurde und die Brücken begannen, sich knarrend auseinanderzuschieben, war mir danach, allein zu sein. Während Tolik und Meloman an den Strand gingen, um zu baden, und Chris sich mit Timur auf den Wehrgang begab, um neue Pläne zu schmieden, stieg ich auf den Wachturm hinauf.
Warum es wohl auf allen Burgen einen Wachturm gibt? Dient er wirklich ausschließlich zu Beobachtungszwecken? Mir scheint, der Wachturm einer Burg bildet auch eine Art ästhetisches Gegengewicht zur schwerfälligen, massiven Erscheinung des Hauptbaus. Eine Burg muss uneinnehmbar und furchteinflößend wirken, schließlich ist sie kein Ferienhaus, sondern in erster Linie eine mehr oder weniger komfortable Befestigungsanlage. Aber anscheinend bleibt in uns der Wunsch nach Schönheit auch dann noch lebendig, wenn wir umgeben sind von dicken Mauern und Tonnen von Stein und
Am Rand der Aussichtsplattform stützte ich mich auf das glatte Steingeländer, das von den Berührungen Tausender Hände vor mir ganz blank poliert war. Meine Gedanken kreisten um die Jungen und Mädchen, die vor einem halben Jahrhundert hier gelebt hatten. Sie hatten es wohl noch schwerer gehabt als wir. Von fremdplanetarischen Eroberern, die uns zumindest aus Filmen und Büchern ein Begriff waren, hatten sie noch nie etwas gehört, und auf die Idee, dass sie gar nicht mehr auf der Erde waren und ihre Kopien dort weiterlebten, wären sie im Traum nicht gekommen.
Was mochten sie empfunden haben, als es sie aus ihrer vom Krieg verwüsteten Heimat auf die Inseln verschlug? Vielleicht waren sie anfangs sogar begeistert von der grandiosen Märchenkulisse, die sie umgab? Das Meer, die Inseln, Burgen, kunstvoll gefertigte Waffen - es muss ein böses Erwachen gewesen sein, als sie begriffen, dass der Krieg sie erneut eingeholt hatte, dass sie dazu verurteilt waren, zu töten und zu sterben, wie zum Hohn unter einer strahlenden Sonne, über zärtlich wogenden Wellen, auf grazil geschwungenen, von einer warmen Brise umwehten Brückenbögen.
»Dima.«
Erschrocken fuhr ich herum. Inga war so leise näher
»Bist du traurig?«, fragte sie.
»Wie kommst du darauf?«
Der Versuch, meine bedrückte Stimmung mit dieser Gegenfrage zu kaschieren, scheiterte kläglich.
»Ich bin auch traurig.«
»Wegen des Tagebuchs, oder?«, fragte ich.
Inga nickte. »Die Außerirdischen haben alles genau durchdacht«, sagte sie leise und starrte aufs Meer hinaus. »Sie kennen jeden unserer Schritte, aber nicht deshalb, weil es Verräter unter uns gibt. Auf den Inseln wiederholt sich einfach alles. Sie haben unsere Reaktionen in den verschiedenen Situationen längst studiert. Sie wissen genau, was wir wann tun und lassen.«
»Vielleicht geht es ihnen ja eben darum.«
»Vielleicht, ja.«
Lange sah ich Inga in die Augen. Es ging mir durch den Kopf, dass ich um mich selbst fast keine Angst hatte. Auch um Chris oder Rita hatte ich keine Angst. Aber wenn Inga etwas zustieße, würde ich mich die Brücke hinabstürzen. Ich liebte sie beinahe und durfte doch gar nicht darüber nachdenken. Sonst würde das »beinahe« womöglich noch verschwinden, und ich war fest entschlossen, nicht das geringste Risiko einzugehen. Im Zusammenhang mit Inga würde ich gegen keine Regel des Großen Spiels verstoßen. Ich musste mich mit den drei oder vier Jahren abfinden, die wir auf den Inseln würden leben können. Die
»Dima, du musst dir etwas einfallen lassen! Du kannst das, ich weiß es. Wir dürfen nicht mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn schießen, das ist barbarisch. Und wir dürfen auch nicht versuchen, alle zu vereinigen, das ist dumm. Denk dir etwas anderes aus, Dima.«
Sie wandte sich ab und ging zur Treppe. Ich blieb sprachlos auf der Plattform zurück.
Erst als Inga schon nach unten verschwand, presste ich hilflos hervor: »Ich versuche es. Ich werde mir Mühe geben, ehrlich.«
Sie hatte recht. Nach den Regeln der Außerirdischen konnten wir nicht gewinnen, und ihre Regeln konnten wir nicht ändern. Wir mussten das ganze Regelwerk zerstören und aus diesem Kreislauf ausbrechen.
Wir mussten die Brücken sprengen!
Dynamit ist ein sehr eigenartiger Sprengstoff. Das mussten wir feststellen, als wir versuchten, ihn für unsere Zwecke zu nutzen. Zunächst schleppten wir eine fast volle Kiste der gelben Stangen auf die Westbrücke und verlegten eine Zündschnur, die wir aus pechgetränktem Hanfwerg gebastelt hatten. Unsere Gegner, die in zwanzig Meter Entfernung auf der anderen Seite der Brücke standen, verfolgten die Sprengvorbereitungen mit besorgten Mienen. Dann, als sich Chris daranmachte, die Lunte anzuzünden, nahmen sie schleunigst Reißaus.
Langsam brannte die Zündschnur ab und... nichts passierte. Eine Viertelstunde lang warteten wir auf eine Explosion, dann näherte sich Timur zögerlich dem Sprengsatz. Zunächst betrachtete er aus ein paar Schritten Entfernung misstrauisch die zu einem Haufen aufgeschichteten Klötzchen, dann trat er heran und begann die Dynamitstangen von der Brücke zu werfen. Nachdem fünf oder sechs der »Blindgänger« im Wasser versunken waren, winkte er uns herbei.
»Das ist kein Dynamit, sondern irgendein Müll«, moserte er enttäuscht. »Das Zeug denkt gar nicht daran, zu explodieren, obwohl es brannte.«
»Es brannte?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, es brannte, aber wahrscheinlich ist es verfault, genau wie die Maschinengewehre. Das ist kein Sprengstoff, sondern Grießbrei.«
»Grießbrei brennt aber nicht«, entrüstete sich Ilja, den die Idee mit der Sprengung völlig faszinierte.
Während wir um den missglückten Sprengsatz herumstanden und noch über die Ursachen dafür diskutierten, erklärte Tom Chris etwas auf Englisch. Zuerst schien Chris ihn gar nicht zu beachten, dann plötzlich wurde er hellhörig.
»Hört zu, Tom hat etwas Interessantes gesagt. Nicht jeder Sprengstoff lässt sich einfach mit Feuer entzünden. Für bestimmte Sorten braucht man einen Detonator.«
Wieder einmal überraschte uns der Australier mit seinem Spezialwissen. Nach der Geschichte mit dem Rauschgift war er merklich darum bemüht, sich zu rehabilitieren.
»Und wo kriegen wir einen Detonator her?«, fragte Timur.
»Versuchen wir’s mit Schießpulver«, erwiderte Chris. »Die Maschinengewehre sind zwar im Eimer, aber die Patronen sind noch heil.«
Tatsächlich hatten wir in der Kapelle Unmengen von Patronen gefunden, aus denen sich mindestens ein Kilo Schießpulver gewinnen ließ.