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Schlaftrunken hob ich den Kopf und spähte zum Fenster. Es war schon überraschend hell draußen, und die Brücken mussten sich längst zusammengeschoben haben. Warum hatte mich bloß keiner zur Wache gerufen?

Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett und begann mich hastig anzuziehen. Womöglich hatte Chris beschlossen, mit weniger Kämpfern auszurücken, jetzt da die Westbrücke nicht mehr bewacht werden musste. Aber warum wurde die unerwartete Verschnaufpause ausgerechnet mir verordnet und nicht Ilja oder dem vor Kurzem verwundeten Meloman? Irgendwie kränkte mich das in meiner Ehre.

Während ich in die Schuhe schlüpfte und das Schwert hastig am Gürtel befestigte, beschloss ich, der Sache unverzüglich auf den Grund zu gehen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Mich auf der Stelle drehend, sah ich mich in meiner wohlbekannten Kammer um. Dann trat ich zum Fenster:

Ein leichter Schauer durchfuhr mich, nicht vor Angst, sondern vor Kälte. Normalerweise wurde mir immer schnell warm, nachdem ich mich morgens angezogen hatte, selbst wenn es draußen noch dunkel war.

Das war es! Es herrschte eine ungewohnte Kälte in meiner Kammer, sicher nicht über zehn Grad. So kühl war es selten auf den Inseln, nicht einmal im Freien, bei Regen und heftigem Wind. Außerdem schien das Wetter draußen im Augenblick gar nicht so schlecht zu sein.

In der vagen Hoffnung, dass sich die Kälte nur in der Burg und in den steinernen Wänden meiner Kammer verschanzt hatte, öffnete ich das Fenster. Doch von draußen schlug mir noch viel kältere Luft entgegen; ich begann zu schlottern. Der Luftschwall, der von außen hereindrang, schien mit jedem Moment immer noch eisiger zu werden. Völlig konsterniert kletterte ich übers Fensterbrett auf den Wehrgang hinaus.

Nur wenige Meter entfernt stand Chris ans Geländer gelehnt und sah äußerst ungewohnt aus. Er steckte in einem kanariengelben Wollpullover, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte er angestrengt in den Himmel.

Als ich zu ihm trat, sah er zwar aus dem Augenwinkel kurz in meine Richtung, verharrte aber in seiner beobachtenden Haltung und sagte nichts.

»Wo sind die anderen?«, fragte ich verstört.

»Ilja und Tom sind beim Fischen, der Rest schläft«, erwiderte er knapp.

»Und wer ist auf den Brücken?«, fragte ich beinahe vorwurfsvoll.

Chris grinste. »Niemand. Es ist zu kalt. Die Brücken haben sich nicht zusammengeschoben, keinen Zentimeter, soweit ich das von hier aus beurteilen kann.«

Natürlich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass sich der Spalt zwischen den Brücken nur schloss, wenn diese von der Sonne aufgeheizt wurden.

»Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass es hier so kalt werden kann«, murmelte ich kleinlaut, wie um meinen etwas großspurigen Ton von vorhin zu entschuldigen.

»Hätte ich auch nicht für möglich gehalten«, sagte Chris nickend.

Die Kälte kam so überraschend, als hätte man uns über Nacht von unserer tropischen Insel in die sibirische Taiga verpflanzt. Mich fröstelte.

»War es früher nie so kalt?«, fragte ich.

»Nein. Aber früher haben wir auch keine Brücken in die Luft gejagt.«

Die Arme vor der Brust verschränkend, fasste ich mich mit den Händen an den Schultern. Eine dumme Pose, als ob einem davon wärmer würde. Tom hatte sich auf diese Weise zusammengekauert, als er auf der Insel gelandet war und sich plötzlich fremden Mädchen und Jungen gegenüber gesehen hatte.

»Chris, haben wir noch warme Sachen zum Anziehen?«

»Frag Rita, die findet schon irgendwas.«

Schlotternd strebte ich der nächsten Tür zu. An der

Chris schüttelte den Kopf, als hätte er meine ironische Frage ernst genommen.

»Die Sonne suche ich. Es sind kaum Wolken am Himmel, trotzdem sieht man nirgends die Sonne. Ist doch seltsam, oder?«

Nach dem Mittagessen begann es zu regnen. Zunächst war es nur ein feiner Niesel, der unsichtbar und lautlos vom Himmel kam. Wir hatten uns schon am Vormittag im Thronsaal versammelt, unterhielten uns, tranken Tee und versuchten, die in unsere Knochen kriechende Kälte, so gut es ging, zu ignorieren. Rita hatte alle Vorräte an warmer Kleidung, die sich in der Burg fanden, unter uns verteilt. Es waren Pullover, Jacken und Mäntel derjenigen Inselbewohner, die zur Winterszeit von der Erde entführt worden waren.

Mir hatte Rita eine hochwertige Allwetterjacke aus schwarzem und silbergrauem Stoff zugedacht, in die unzählige Taschen eingenäht waren. Das edle Stück sah aus wie ein Raumanzug. Meine Freunde auf der Erde wären vor Neid geplatzt, wenn sie mich darin hätten sehen können. Die Jacke war eine Nuance zu klein und stand mir dadurch, wie ich fand, besonders gut. Ein praktisches Detail bestand darin, dass man die Kapuze und die Ärmel mit einem Reißverschluss abtrennen konnte, so würde ich im Gefecht in meiner Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt sein. Dieser Gedanke war allerdings ein wenig abwegig, denn bei den herrschenden Temperaturen war an Kämpfe überhaupt nicht zu denken. Der

Als die Mädchen für einen Moment den Saal verlassen hatten, nutzte Meloman die Gelegenheit, um einen schmutzigen Witz zu erzählen. Wir brüllten vor Lachen, nur Tom blickte verständnislos in die Runde, weil er kein Wort verstanden hatte. Chris übersetzte den Witz ins Englische, und als Tom zu lachen anfing, prusteten auch wir anderen erneut los, bis uns die Tränen in den Augen standen. Dann, als wir nach dem unerwarteten Heiterkeitsausbruch alle erschöpft verstummten, erfüllte eine vollkommene Stille den Raum, vor deren Hintergrund sich das leise Rauschen des Nieselregens abhob.

Mit dem Auge kaum wahrnehmbare, feine Wassertropfen wurden vom Wind zerstäubt und schlugen sich als trüber Film auf den Fenstern nieder. Nach einigen Minuten hatten sich zu Füßen der Burg wie aus dem Nichts erste kleine Pfützen gebildet, deren Oberflächen sich durch den Niesel fein kräuselten und zu zittern schienen.

Tolik und ich standen nebeneinander am Fenster, pressten die Nasen an die kalte Scheibe und schauten eine Weile schweigend dem Regen zu. Dann schob Tolik plötzlich den Riegel zurück und zog am Griff. Das Fenster klemmte und ließ sich nur mit einem heftigen Ruck öffnen, als hätte sich der Holzrahmen in der Kälte bereits verzogen.

Durch das geöffnete Fenster ergoss sich ein Schwall eisiger, von herbstlicher Klammheit getränkter Luft in den Raum. Der Himmel war bis zum Horizont mit einem dichten, grauen Wolkenschleier verhangen. Tom begann

»Schweinekalt!«, kommentierte Chris mit finsterer Miene.

Keiner sagte mehr ein Wort, bis Tolik das Fenster so energisch wieder zustieß, dass die Scheiben bedrohlich schepperten.

»Vielleicht ist das ja der hiesige Winter«, mutmaßte Ilja und sah uns heftig zwinkernd einen nach dem anderen an. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass er ohne Brille Meloman nicht von Tolik und mich nicht von Timur unterscheiden konnte.

»Ja, es ist Winter«, pflichtete Timur bei. »Fünfzig Jahre lang war Sommer, und jetzt folgen eben fünfzig Jahre Winter.«

»Zwischen Sommer und Winter müsste aber normalerweise noch der Herbst kommen«, entgegnete Chris leise. »Ein so abrupter Wintereinbruch ist doch nicht normal.«

»Wir werden bestraft.«

Fast hatten wir schon vergessen, wie Maljoks Stimme klingt. Völlig unerwartet hatte er sich in die Diskussion eingeschaltet. Schon seit längerer Zeit war er bei Zusammenkünften und Unterhaltungen nur mehr als schweigender Zuhörer beteiligt gewesen. Meist saß er in irgendeiner Ecke und schrak zusammen, wenn man ihn ansprach.

»Was willst du damit sagen?«, fuhr Chris ihn an. »Weißt du etwas?«

»Ja«, erwiderte Maljok und fuhr leise, aber bestimmt fort: »Ich habe sie einmal gefragt, was sie mit denen machen, die sich nicht unterordnen wollen. Und sie haben