»Das hättest du wirklich mal früher sagen können«, zürnte Chris.
Maljok wurde noch ein wenig kleiner, als er ohnehin schon war. »Es ist mir eben erst wieder eingefallen. Außerdem haben sie es ja nicht im Zusammenhang mit den Brücken gesagt. Ich hätte gedacht, dass man dafür schon etwas Schlimmeres anstellen müsste.«
»Könntest du nicht mal nachfragen, Maljok?«, sagte Chris ätzend. Unser sonst so beherrschter Kommandeur blickte den Jüngeren mit einem bösen Grinsen an. »Du könntest doch in den Keller gehen und ein bisschen mit ihnen plaudern.«
Maljok wurde auf einen Schlag kreidebleich. »Alles, nur das nicht«, stammelte er panisch. »Die bringen mich um. Schließlich habe ich sie verraten, und das wissen sie auch. Sie können Stromstöße durch die Tafel jagen, die man berühren muss, um mit ihnen zu sprechen.«
Chris hatte sich bereits wieder im Griff und sah Maljok nachdenklich an. »Wie du meinst«, sagte er schließlich. »Trotzdem habe ich den geistigen Nährwert dieser Bestrafung noch nicht ganz verstanden. Wenn sie uns mit der Kälte umbringen wollten, müssten sie die ganzen Inseln in einen Gefrierschrank verwandeln. Dann würden auch diejenigen draufgehen, die ihnen gehorchen. Warum so kompliziert?«
»Sie könnten doch einfach aufhören, uns Lebensmittel zu schicken«, warf Tolik ein. »Dann würden wir ziemlich schnell verhungern. Das wäre doch viel einfacher und effektiver, als so ein Kältespektakel zu veranstalten.«
»Ganz recht«, pflichtete Chris bei. »Schade, dass du
Das sind ja schöne Aussichten, dachte ich bei mir. Besorgt wandte ich mich wieder zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Da fiel mir auf, dass sich die Pfützen auf einmal nicht mehr kräuselten. An ihrer Oberfläche hatte sich eine dünne, gläserne Haut gebildet.
»Null Grad«, rief ich unwillkürlich aus. »Jetzt wird’s frostig, Freunde.«
Am nächsten Morgen wäre ich am liebsten im Bett geblieben. Mir war von vornherein klar, dass es ein böses Erwachen geben würde. Die warme Decke über den Kopf gezogen, klammerte ich mich an meine zerrieselnden Träume und versuchte krampfhaft weiterzuschlafen. In jenem Moment wäre es mir so viel lieber gewesen, in bizarren Traumwelten zu wandeln, als auf dem harten Boden der Wirklichkeit aufzuschlagen. Doch es half alles nichts, schon kroch die Kälte mit langen Krakenarmen gnadenlos unter meine Decke und versetzte meinem hilflosen Körper Millionen feinster Nadelstiche.
Ein verstohlener Blick zum Fenster bestätigte mir, was ich ohnehin geahnt hatte: Draußen schneite es. Angewidert streckte ich den Arm aus und tastete nach dem Kleiderstapel, der vor meinem Bett auf einem Stuhl lag. Tief in die Decke verkrochen, zog ich mich Schicht für Schicht an. Dann sprang ich mit einem Satz aus dem Bett und schlüpfte hastig in meine warme Jacke. Um mich aufzuwärmen, ruderte ich mit den Armen und versuchte, mir einzureden, dass es in Wirklichkeit gar nicht so furchtbar
Der Schnee fiel ebenso monoton und unspektakulär wie der Regen am Vortag. Wie in Zeitlupe sanken dichte Schleier feinster Flocken vom Himmel, als wollte es nie wieder aufhören, zu schneien. Wenn wirklich die Außerirdischen dahintersteckten, dann kannten sie sich in der menschlichen Psyche erstaunlich gut aus. Das allmähliche, aber unaufhaltsame Absinken der Temperatur war wesentlich beklemmender und zermürbender, als ein aus heiterem Himmel einsetzender Schneesturm es je hätte sein können.
Als ich durchs Fenster auf den Wehrgang hinaussprang, landete ich bis zu den Knöcheln im Schnee. Er rieselte sofort in meine Turnschuhe, wo er schmolz und meine Socken durchnässte. Da ich keinen Ersatz hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als das frostige Fußbad zu ignorieren und zu versuchen, durch Auf- und Abgehen warm zu werden.
Die Brücken sahen irgendwie verengt und erbärmlich aus. Entweder ich bildete mir das nur ein, oder sie waren in der Kälte tatsächlich geschrumpft. Unten am Strand schlenderte Chris umher. Eine Weile sah ich ihm dabei zu, dann beschloss ich, zu ihm hinunterzugehen.
Unser Kommandeur benahm sich eigenartig: Mit der Schuhspitze berührte er immer wieder die Wasseroberfläche, um das Bein dann wieder zurückzuziehen und einige Schritte weiter am Strand entlangzugehen, wobei das Profil seiner Turnschuhe hübsche, gerippte Abdrücke im Schnee hinterließ.
»Chris!«, rief ich ihm zu.
Er wandte sich um, nickte kurz und kam mir dann
»Was treibst du denn da?«, fragte ich. »Prüfst du, ob das Wasser zum Baden taugt?«
»Genau. Wenn das Eis ein bisschen dicker wird, gehen wir baden. Bei euch Russen ist das doch so üblich, oder?«
Ungläubig blickte ich aufs Meer. In Ufernähe hatten sich tatsächlich erste, noch ganz kleine Eisschollen auf dem Wasser gebildet. In Eislöchern zu baden ist natürlich eine feine Sache, ein russischer Volkssport gewissermaßen, wir machen den ganzen Winter nichts anderes, als bei Frost in der Sonne zu liegen. Aber wie zum Teufel war es möglich, dass hier das Meer zufror? Schließlich war das Wasser extrem salzig.
»Chris, das gibt’s doch nicht. Salzwasser kann nicht so schnell gefrieren!«, rief ich erstaunt.
»Du hast vollkommen recht«, sagte Chris.
Kopfschüttelnd trat ich ans Ufer, schöpfte eine Handvoll des schneidend kalten Wassers und führte es an die Lippen. Es schmeckte kaum salzig, selbst der Jodgeruch war nicht mehr wahrnehmbar. Man hätte meinen können, es sei Wasser aus dem kleinen See in unserer Stadt.
»Gehen wir zurück in die Burg«, schlug Chris vor. »Ich friere wie...«
Chris suchte nach dem richtigen Wort. In all den Jahren auf der Insel war er nie mit heftiger Kälte konfrontiert gewesen. Es war also kein Wunder, dass er keine russische Redewendung für diese Situation parat hatte.
»... wie ein Schneider«, ergänzte ich für ihn.
Durch den immer tiefer werdenden Schnee stapfend, machten wir uns auf den Rückweg zur Burg.
»Was soll der faule Zauber?«, fragte ich. »Was hat es für einen Sinn, ein ganzes Meer zu entsalzen?«
»Hast du das noch nicht kapiert?«
»Nein.«
»Ganz einfach: Wenn das Meer vollständig zugefroren ist, kann man auch ohne die Brücken von Insel zu Insel zu gelangen. Unsere Nachbarn wissen ganz genau, wer an der Kältewelle schuld ist. Sie werden uns alle abschlachten.« Chris öffnete das Burgtor. »Und dann wird es ganz schnell wieder wärmer.«
Vom Ufer her fror das Meer nach und nach zu. Die Eiskruste bildete einen dicken, sich ständig verbreiternden weißen Ring um die Insel. Von oben sah es aus wie ein Gürtel aus Gischt, der in der Bewegung erstarrt war.
Gleichzeitig entstanden im offenen Meer zwischen den Inseln bläulich schimmernde Eisschollen. Zwar waren es noch nicht besonders viele, aber man konnte dabei zusehen, wie es allmählich immer mehr wurden.
»Wir haben noch ein oder zwei Tage zu leben«, rief Meloman laut.
Vermutlich hatte er es nur leise vor sich hin flüstern wollen; es war eigentlich nicht seine Art, mit melodramatischen Phrasen um sich zu werfen. Sein Disc-Man lief jedoch mit voller Lautstärke, weshalb er nicht einschätzen konnte, wie laut er sprach.
Dafür konnte ich ein paar Fetzen des Liedes verstehen, das gerade lief:
Eiskalter Wind durchfegt die Stadt,
bittrer Frost klirrt unversöhnlich,
ein alter Schriftzug leuchtet matt:
Partei und Volk sind unzertrennlich.
Es war wieder ein Stück von Melomans Lieblingsgruppe Zeitspirale. Und wenn ich mich recht entsann, hieß das Album Liebe im Land des Frosts.
Niemand schenkte Melomans düsterer Prognose Beachtung. Im Thronsaal wurden allerlei Pläne zur Verteidigung der Insel diskutiert, und von allen Seiten hagelte es »geniale« Ideen. Timur regte an, das Eis mit dem restlichen Dynamit zu sprengen; Inga hielt es für sinnvoll, Skier und Schlittschuhe anzufertigen, um einen Geschwindigkeitsvorteil zu erlangen; Ilja verstieg sich zu dem abenteuerlichen Einfall, einen Überraschungsangriff auf die Nachbarinseln zu starten; Olja bevorzugte die defensivere Variante, sich übers Eis möglichst schnell und weit aus dem Staub zu machen. Als ich mir vorstellte, wie Timur und Inga auf Schlittschuhen, zwischen Eislöchern hindurchlavierend und mit den Holzschwertern fuchtelnd, übers gefrorene Meer sausen würden, musste ich laut auflachen.