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»Was meinst du denn dazu, Dima?«, fragte Tolik.

Betreten zog ich die Schultern hoch. »Mir ist noch nichts eingefallen. Weit weg über das Eis flüchten können wir jedenfalls nicht. Sobald wir ein paar Kilometer von der Insel entfernt wären, würde das Eis garantiert tauen. Nicht wahr, Maljok?«

»Natürlich, es würde sofort wieder schmelzen«, bestätigte Maljok dienstfertig.

»Dieser Plan entfällt also. Das Eis zu sprengen wäre

»Aus den Dynamitstangen?«, fragte Timur.

»Ja, mit kurzer Zündschnur.«

»Wäre eine Möglichkeit.« Timur drehte sich um. »Wo ist eigentlich Chris? Rita, wo ist er hingegangen?«

»Er war noch gar nicht hier«, erwiderte Rita achselzuckend. »Wahrscheinlich ist er auf dem Wachturm, jedenfalls wüsste ich nicht, wo er sonst sein könnte.«

Auch mir war bisher nicht aufgefallen, dass Chris nicht bei uns war. Das war sehr ungewöhnlich, denn bei strategischen Besprechungen war der Kommandeur normalerweise immer dabei. Ich wusste nicht, was die anderen sich dachten, jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht stimmte.

»Ich hole ihn«, sagte ich und sprang vom Stuhl auf. »Er wird sich noch erkälten dort oben.«

Rita sah mich an, und in ihrem Blick lag Besorgnis. In diesem Augenblick spannte sich ein unsichtbares Band zwischen uns, denn wir hatten beide das Gefühl, dass Chris nicht zufällig mit Abwesenheit glänzte.

»Ja, geh ihn suchen, Dima«, bat sie. »Es ist schon halb acht. Zeit zum Abendessen.«

Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf Olja, Tanja und Rita. Die Aussicht auf eine Mahlzeit war eine willkommene Ablenkung und suggerierte wenigstens einen Hauch von Normalität in unserer prekären Lage.

»Ich bin gleich zurück«, sagte ich und verließ zusammen mit Olja den Raum, die als geräuschloser Schatten in Richtung Küche entschwand.

In den Gängen herrschte ein eigenartiges Licht. Einerseits war es düster, da es bereits Abend war und dichte Wolken den Himmel verhüllten, andererseits wurde das wenige vorhandene Licht ziemlich grell von der weißen Schneedecke reflektiert. So entstand eine Art Zwielicht, das die Wände um mich herum in ein gespenstisches Grau tauchte.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte ich die Wachturmtreppe empor. Ob Chris sich tatsächlich dort oben aufhielt? Was hatte er bei der lausigen Kälte dort verloren?

Auf der Aussichtsplattform lag eine dicke Schicht Schnee, der beim Darübergehen sanft knirschte und sich weich wie Pappelflaum anfühlte. Von Chris - keine Spur. Trotz Kälte und Schneetreibens blieb ich für kurze Zeit oben, denn die Aussicht auf die Insel in ihrem neuen Schneegewand war beeindruckend.

Von der weißen Pracht überzuckert, wirkte das Eiland noch mehr als zuvor wie ein Spielzeug, wie ein Untersetzer aus weißem Kunststoff, auf dem sich das Miniaturmodell einer mittelalterlichen Burg erhob. Der See inmitten der Insel war bereits völlig zugefroren. Unter der Last der Schneemassen bogen sich die Äste der wenigen Bäume; sie hatten keine Zeit mehr gehabt, die Blätter abzuwerfen. Der Landehügel ragte als sanft geschwungener weißer Rücken aus der Ebene heraus und schimmerte im diffusen Abendlicht. Für einen Neuankömmling wäre es ein interessanter Zeitpunkt für eine Landung gewesen: einerseits schön weich, aber andererseits...

Das Meer war inzwischen fast vollständig mit Eis bedeckt. An manchen Stellen schien es noch sehr dünn zu sein, man konnte deutlich das dunkle Wasser hindurchscheinen

Gedankenverloren stieg ich die Treppe hinab und hoffte, Chris in seiner Kammer anzutreffen. Die Tür war nicht abgesperrt, und drinnen war es stockfinster, da die Fensterläden geschlossen waren. Ich wollte schon wieder gehen und woanders weitersuchen, als ich plötzlich ein leises, unterdrücktes Seufzen vernahm.

»Chris?«

Keine Antwort. Auf dem Tisch tastete ich nach Kerze und Streichhölzern und machte Licht. Man musste sich daran gewöhnen, dass auf den Inseln alles Wichtige zu später Stunde oder nachts geschah. Die Tage vergingen einer wie der andere, nachts hingegen lösten sich die Zungen und eröffneten sich überraschende Geheimnisse.

Chris lag weinend auf seinem Bett. Betroffen setzte ich mich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Chris, was ist los?«, fragte ich leise.

Zögerlich hob er den Kopf. »Ach, du bist’s, Dima, unser tapferer Freund.« Seine Augen glänzten feucht und blickten mich nervös rollend an, als könnte er sie nicht ruhig auf einen Punkt richten.

»Weine nicht«, sagte ich und schluckte an einem Kloß in meinem Hals. »Keiner hat bis jetzt die Hoffnung verloren, Chris, nicht einmal die Mädchen. Vielleicht wird es ja doch wieder wärmer, und das Eis...«

Chris unterbrach mich mit einem hysterischen Lachen.

Seine herablassende Art ärgerte mich.

»Ja, denke ich.«

»Ach Quatsch!« Nach kurzem Schweigen fuhr er mit dünner Stimme fort: »Es ist so merkwürdig. Als ich noch dort lebte... Ich ging in die Schule, und auf dem Weg dorthin musste ich eine Straße überqueren. Eine breite Straße, auf der viel Verkehr war. Und mein Vater - ich hatte einen sehr strengen Vater, der eher dazu neigte, mich zu bestrafen, als mich zu loben - begleitete mich und führte mich über die Straße. Ein ganzes halbes Jahr lang, bis er endlich kapiert hatte, dass ich schon längst imstande war, selbstständig jede noch so breite Straße zu überqueren. Damals konnte ich nicht verstehen, warum er sich solche Sorgen um mich machte... Jetzt verstehe ich es.«

»Chris, hör mal«, erwiderte ich äußerst befremdet, »wenn du der Meinung bist, wir seien alle deine Kinder... Vielen Dank, aber wir können auch schon selbst über die Straße gehen.«

»Manchmal bist du wirklich ein dummer Junge«, sagte Chris ruhig. »Mit so einem Bengel wie dir kann man graue Haare bekommen.« Plötzlich streckte er die Hand aus und löschte die Kerzenflamme zwischen Daumen und Zeigefinger. Das kleine Licht verlosch, und der verglimmende Docht begann zu qualmen. »Wir erwarten ein eigenes Kind, Dima. Rita und ich. Das heißt, wir werden Eltern. Aber so weit wird es nicht mehr kommen.«

»Schon bald?«, fragte ich dumm.

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Dann... ähm... gratuliere ich dir.«

Stille trat ein. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass Chris im nächsten Augenblick aufspringen und mir eine Ohrfeige verpassen würde. Stattdessen brach er wieder in dieses unnatürliche hysterische Lachen aus, das ich überhaupt nicht von ihm kannte.

»Du bist schon in Ordnung, Dima. Als Sohn würde ich dich zwar lieber nicht haben wollen, aber als kleinen Bruder - gern.«

»Danke für die Blumen.«

Chris begann leise und dünn zu kichern. »Was sind wir doch für höfliche, gute Menschen. Aber diese Inselherren bringen uns einfach um. Zwingen uns, uns gegenseitig zu töten. Und wir können nichts dagegen machen, absolut nichts!«

»Chris, du wirkst, als ob du betrunken bist«, bemerkte ich vorsichtig.

»Ach ja?... Wenn du meinst... Kann schon sein. Zu Hause habe ich nie Alkohol getrunken. Nur ein einziges Mal habe ich Bier probiert, mit meinem Bruder zusammen.«

»Was hast du genommen, Chris?« Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Dieses Zeug von Tom hast du doch weggeworfen, oder? Chris! Was hast du mit den Drogen gemacht?«